Autorius: Ano Šaltinis: https://www.anonymousnews.org/... 2024-07-15 02:13:00, skaitė 1159, komentavo 0
„Die Guten dürfen und können sich nicht verstecken“, sagt der Thüringer Verfassungsschutzchef Stephan Kramer.
von Maximilian Beer
Die Pandemie ist vorbei, es gibt keine Maskenpflicht mehr, keine Impfkampagnen und auch keine Demonstrationen gegen die Maßnahmen. Aber die neuen Staatsfeinde sind noch da, sie werden sogar mehr, mittlerweile sind es 1600 im gesamten Bundesgebiet. So schreibt es jedenfalls der Verfassungsschutz in seinem neuen Jahresbericht.
Sie treten in losen Gruppen auf oder jeder für sich allein. Ihre bevorzugten Waffen scheinen Smartphones und Computer zu sein, denn sie sind vor allem in den sozialen Netzwerken und in Chats aktiv. Ihre Lieblingsapp heißt Telegram. Dort schimpfen sie in überzogenem Ton auf Politiker oder rufen andere dazu auf, die Vorschriften von Behörden nicht zu befolgen. Sie haben sich nach Corona neue Themen gesucht, heißt es: die Klimapolitik, den Ukrainekrieg, die Inflation.
Sie beteiligen sich an der „ständigen Verächtlichmachung“ von Institutionen des Staates. Eine „offene Ablehnung der Demokratie als solcher“ kann bei den meisten von ihnen zwar nicht festgestellt werden. Trotzdem stehen sie im Verfassungsschutzbericht. In der Rubrik: „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“.
Es gibt sie erst drei Jahre, seit der Corona-Pandemie. In der Sprache der Behörde handelt es sich um einen neuen „Phänomenbereich“, der seitdem neben Linksextremismus, Rechtsextremismus, Islamismus oder Spionage für fremde Mächte systematisch beobachtet werden muss. Der Verfassungsschutz hat seine Überwachung der Bürger damit noch einmal ausgedehnt. Auf Menschen, die seiner Ansicht nach „das Vertrauen in das staatliche System erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigen“ wollen. Auch wenn sie sich keine rechte oder linke Diktatur herbeiwünschen.
Wollen sie einen Umsturz anderer Art? Unklar. Die Demonstrationen der Szene seien zuletzt selten und schlecht besucht gewesen. Wer die 1600 gezählten „Akteure“ sind, lässt der Bericht offen. Aber 250 von ihnen stuft er als gewaltbereit ein.
Mit der „Delegitimierung des Staates“ hat sich der Verfassungsschutz ein neues Arbeitsgebiet erschaffen, gegen das sich Widerstand regt. Wolfgang Kubicki, FDP-Politiker und Vizepräsident des Bundestags, gehört zu den Kritikern. Der Vorwurf der Delegitimierung sei „hinreichend unscharf“ definiert, sagt er, zu „beliebig anwendbar“. So könnten „auch extreme, aber zulässige Meinungsäußerungen“ dazu führen, ins Visier der Verfassungsschützer zu geraten. Letztlich könne der Vorwurf sogar Satirikern gemacht werden.
Mathias Brodkorb, ehemals Bildungs- und Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern und Autor eines neuen Buchs über den Verfassungsschutz, sagt, die Kategorie sei eine „Panikreaktion des Staates in der Pandemie“ gewesen, ein „Griff in die Giftkiste“ – der schleunigst rückgängig gemacht werden sollte.
Der Verfassungsschutz ist ein Inlandsgeheimdienst, der im Blick behalten soll, ob Bürger sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik in Stellung bringen könnten. Der Dienst operiert im Konjunktiv. Seine Mitarbeiter forschen nach „Bestrebungen“, nach Absichten also. Sie beobachten Menschen nicht erst, wenn sie bei ihnen handfeste Umsturzpläne vermuten. Sondern schon dann, wenn sie annehmen, dass sie eines Tages Umsturzpläne haben könnten.
Man kann lange, ohne je eine Straftat zu begehen, unter Beobachtung stehen oder gar in einem Verfassungsschutzbericht auftauchen. Die Beobachtung reicht dabei von der Auswertung öffentlicher Quellen, etwa Medienberichten oder Facebook-Posts, bis hin zu nachrichtendienstlichen Mitteln, also etwa Telefonüberwachung, Observation. Sobald man sich strafbar macht, ist der Verfassungsschutz gar nicht mehr zuständig – er darf niemanden festnehmen, denn er ist keine Polizei.
Seit Jahrzehnten wird der Verfassungsschutz kritisiert, seine Abschaffung gefordert. Gegner nennen ihn eine „Gewissenspolizei“ und fragen: Warum braucht Deutschland ihn? Weder in den USA noch in Großbritannien oder Frankreich gibt es einen Inlandsgeheimdienst, „der die eigene Bevölkerung nach politischen Kriterien scannt“, wie es der Verfassungsschutzexperte und Journalist Ronen Steinke nennt. In Staaten wie China oder Russland werden die Bürger umfassender überwacht als in Deutschland.
Zu den grundsätzlichen Zweifeln am Verfassungsschutz kommt die lange Geschichte seines Versagens und seiner Skandale. Echte Staatsfeinde, wie die rechtsradikale Terrorgruppe NSU, hat der Verfassungsschutz allzu oft nicht aufgespürt. Er hat weder die Mordserie der Neonazis noch den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 mit zwölf Toten verhindert. Ein Antrag auf ein Verbot der NPD scheiterte, weil der Verfassungsschutz zahlreiche V-Leute in die Parteiführung eingeschleust hatte.
Kritik kam nicht nur von der Linkspartei, deren Politiker selbst überwacht wurden, sondern auch von den Grünen und der FDP. Dem Dienst haben Zweifel und Skandale aber nie etwas anhaben können, im Gegenteil, er ist größer und größer geworden. Vor zwölf Jahren arbeiteten 2700 Leute beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Inzwischen sind es mehr als 4200. Mit der Zahl der Mitarbeiter steigen die Kosten, zuletzt erhielt die Behörde 469 Millionen Euro aus der Staatskasse, mehr als doppelt so viel wie noch acht Jahre zuvor. In den Verfassungsschutzämtern der 16 Bundesländer arbeiten noch einmal mehr als 4200 Menschen. Der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND hat rund 6500 Mitarbeiter.
Das Bundesamt begründet den Zuwachs mit „immer komplexer werdenden Bedrohungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung“. Damit ist auch der neue Phänomenbereich gemeint, für ihn wurden Abteilungen in Bund und Ländern aufgebaut.
Der Verfassungsschutz war seit seinen Anfängen vom politischen Zeitgeist geprägt. Er wird oft von Menschen mit Parteibuch geführt, und er untersteht den Innenministern, auf Bundes- wie auf Landesebene. Über Horst Seehofer heißt es, dass er als Bundesinnenminister ein Gutachten über die AfD ändern ließ. Weil er etwa den Slogan „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ auch in seiner CSU verortete, habe er das Papier überarbeiten lassen, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Eine weitere Episode, die dem Ruf des Dienstes schadete und über die sich mancher Geheimdienstler bis heute ärgert.
Während des Kalten Krieges stand der politische Gegner der Bundesregierung links. Das Feindbild war der Kommunismus. Es folgte die Zeit der RAF, der Radikalenerlass. Noch in den 2000ern beobachtete der Verfassungsschutz die Linkspartei. Unter seinem Präsidenten Hans-Georg Maaßen, damals CDU-Mitglied, konzentrierte sich der Geheimdienst auf den Islamismus.
Wenige Jahre später, unter Nachfolger Thomas Haldenwang, ebenfalls in der CDU, gilt Rechtsextremismus als größte Gefahr. Wie weit er den Auftrag des Geheimdienstes interpretiert, zeigte sich, als Haldenwang im Sommer vor einem Jahr sagte, der Verfassungsschutz sei „nicht allein“ dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken.
Die Kritik von links ist leiser geworden, seit die „rechtsextremen Bestrebungen“, die der Verfassungsschutz bei drei Landesverbänden der AfD festgestellt hat, eines der wichtigsten Argumente im Kampf gegen die Partei geworden sind. Keine Talkshow, keine Rede, kein Leitartikel über die AfD kommt ohne den Hinweis auf den Verfassungsschutz aus: „Die AfD gilt als in Teilen gesichert rechtsextrem.“
Doch was wäre, wenn die AfD eines Tages mitregiert? Wenn sie Innenminister stellt, die Verfassungsschutzchefs absetzen und ernennen dürfen? Entdeckt der Geheimdienst dann Staatsfeinde bei der Grünen Jugend?
In der AfD gibt es unterschiedliche Pläne für diese Behörde. Einige fordern ihre Abschaffung, andere wollen sie reformieren. Es gibt AfD-Politiker, die sich in Hintergrundgesprächen als „Freund des Verfassungsschutzes“ bezeichnen. In Thüringen und Sachsen träumt die Partei von absoluten Mehrheiten. AfD-Innenminister und politische Beamte würden nicht gleich das gesamte Amt umkrempeln, dafür ist es zu groß, zu gefestigt. Doch sie könnten neue Akzente setzen, andere Prioritäten.
War auch die Entscheidung vor drei Jahren, die „Delegitimierung des Staates“ deutschlandweit unter Beobachtung zu stellen, politisch motiviert? Sie fiel in der Amtszeit von Haldenwang, unter Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU. Mitten in der Pandemie, in der neue politische Konfliktlinien aufbrachen. Zwischen denen, die mit den Maßnahmen, die zur Eindämmung des Virus dienen sollten, einverstanden waren, und denen, die sich dagegen stellten.
Im August 2020, ein halbes Jahr nach dem ersten deutschen Corona-Fall, protestierten in Berlin Zehntausende gegen die Pandemie-Politik. Sie waren mit Bussen aus dem ganzen Land angereist. Saskia Esken, Vorsitzende der SPD, verurteilte sie als „Covidioten“. Medien fragten, was das Ziel solcher Proteste sei. „Die Rücknahme der Corona-Auflagen? Die Übernahme der Macht in Deutschland? Einfach Spaß haben und mal auf ’ner Demo mundschutzfrei mit Freunden tanzen?“, schrieb die taz. Am 29. August rannten 400 Demonstranten, darunter Rechtsextreme und Reichsbürger, auf den Eingang des Reichstags zu.
Sechs Monate später teilte das Bundesamt für Verfassungsschutz mit, dass man ab sofort die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ durch die Corona-Protest-Szene im Blick habe. Wer hat das entschieden? Das Bundesamt gibt auf eine Anfrage der Berliner Zeitung dazu keine Auskunft. Horst Seehofer ist im Ruhestand. Jemand aus der CSU meint, es sei schwer, ihn per E-Mail oder Handy zu erreichen. Stephan Kramer sagt: „Wir hatten damals den Eindruck, es mit einem neuen Phänomen zu tun zu haben, das wir bearbeiten müssen.“
Kramer ist seit 2015 Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Er stellt sich drei Stunden lang Fragen der Berliner Zeitung. Auch wenn er nicht alle beantwortet, ist er ein erstaunlich gesprächiger Geheimdienstmann. Früher war er Generalsekretär des Zentralrats der Juden. Bodo Ramelow holte ihn nach Thüringen. Der Ministerpräsident von der Linkspartei wurde selbst jahrzehntelang vom Verfassungsschutz überwacht. Der Mann, der vor Kramer den Verfassungsschutz in Thüringen leitete, war wegen des NSU-Skandals zurückgetreten.
Stephan Kramer gehört zu den Verfassungsschutzchefs, die sich immer wieder in Debatten einmischen. Als in Sonneberg erstmals ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt worden war und die Partei ihre guten Umfragewerte feierte, sagte Kramer, man sei bei „ungefähr 20 Prozent braunem Bodensatz in der Bundesrepublik“. Später erklärte er, das sei zwar provokant und pointiert, aber durchaus so gemeint gewesen. Nicht jeder fünfte Deutsche sei ein Neonazi. Doch im ganzen Land nähmen Chauvinismus, Antisemitismus und autoritäre Einstellungen zu, sagte er der FAZ.
Es ziehe ihn nicht grundsätzlich in die Medien, sagt Kramer, sein Leben wäre deutlich angenehmer, wenn er weniger in der Öffentlichkeit stünde. Doch es gehöre nun mal auch zu seiner „Funktion als Amtsleiter, der Behörde ein Gesicht und eine Stimme zu geben“. Er erzählt, wie er in E-Mails bedroht wird, dass er seinen Kritikern im Supermarkt begegne. Thüringen ist ein kleines Bundesland, es hat etwas mehr als zwei Millionen Einwohner, viele Menschen kennen sein Gesicht. „Die Guten dürfen und können sich nicht verstecken“, sagt er.
Er verteidigt den neuen Phänomenbereich, die „Delegitimierung des Staates“. Der Impuls sei aus den Landesämtern für Verfassungsschutz gekommen, dort habe man im ersten Jahr der Pandemie „normale und legitime Versammlungen und Bürgerproteste“ beobachtet, aber auch die sogenannten Spaziergänge. Ohne Anmeldung, manchmal mit Ausschreitungen. „Dort wurde teils explizit zum Widerstand gegen die staatliche Ordnung aufgerufen“, sagt Kramer. Er spricht von einer „Delegitimierungsbewegung“, die sich nicht „trennscharf“ ideologisch einordnen ließ. Die meisten Spaziergänger waren keine typischen Rechtsextremisten, keine Reichsbürger.
Wo verläuft die Grenze zwischen scharfer Kritik an der Politik und ihrer „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung“? Kann sich das von Jahr zu Jahr ändern? Oder von Innenminister zu Innenministerin?
Es gibt Menschen, denen das zu weit geht. Die sich um die Meinungsfreiheit sorgen und Parallelen zur DDR sehen. Darunter sind Verfassungsrechtler und Autoren wie der frühere SPD-Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb. Sein Buch über den Verfassungsschutz hat den Titel „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“.
Lange sei er „ein großer Fan“ des Verfassungsschutzes gewesen, sagt Brodkorb. Weil der Dienst gegen den Rechtsextremismus kämpft, so wie er selbst. Brodkorb hat rechtsextreme Ideologien erforscht und das Projekt Endstation Rechts in Mecklenburg-Vorpommern gegründet.
Dann sei er an die Akten des Verfassungsschutzes zum Institut für Staatspolitik in Schnellroda in Sachsen-Anhalt gekommen. Das mittlerweile offiziell aufgelöste Institut, gegründet von Götz Kubitschek, galt als wichtige Denkfabrik der Neuen Rechten in Deutschland, wirkte tief hinein in die AfD, der Verfassungsschutz stufte es als „gesichert rechtsextrem“ ein.
Die Akten, die Brodkorb vom Institut bekam, umfassten tausend Seiten. Er sagt, er sei nach der Lektüre „intellektuell erschüttert“ gewesen. Die Verfassungsschützer hätten Texte aus dem Institut analysiert, aber die Theoriegebäude dahinter nicht verstanden. Es gebe zwar einzelne verfassungsfeindliche Sätze aus dem Umfeld von Schnellroda. Aber die meisten Beweise des Verfassungsschutzes hält er für „krude Fehlinterpretationen“.
Was ihn am meisten zu stören scheint, ist, dass die Urteile des Verfassungsschutzes die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten ersetzen. Auch im Umgang mit der AfD beklagt er die Auslagerung des politischen Diskurses an den Geheimdienst.
Brodkorb kam in Rostock zur Welt, ist als Kind mit den Eltern aus der DDR ausgereist, er war in der PDS, ist jetzt in der SPD. Mit DDR-Vergleichen ist er vorsichtig, aber zur „Delegitimierung des Staates“ sagt er: Der Beamtenapparat habe in der Pandemie gelernt, „obrigkeitsstaatlich zu agieren“.
Schärfer formuliert es Wolfgang Kubicki, der Bundestagsvizepräsident, geboren in Braunschweig. Die „Delegitimierung des Staates“ habe auch „zum Werkzeugkasten der DDR-Diktatur“ gehört, sagt er. Kubicki nennt den Paragrafen 106 des DDR-Staatsgesetzbuchs zur „staatsfeindlichen Hetze“, der etwa Schriften unter Strafe stellte, „die die staatlichen, politischen, ökonomischen oder anderen gesellschaftlichen Verhältnisse der Deutschen Demokratischen Republik diskriminieren“.
Das erinnert an den neuen Phänomenbereich, allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied, unter Strafe steht die „Delegitimierung des Staates“ heute nicht. Der Verfassungsschutz erzielt seine Wirkung nicht über die Strafverfolgung – sondern über seine Berichte. Dort möchte man nicht auftauchen – als Gefährder der Demokratie, als Verfassungsfeind.
Besonders stört Kubicki, dass der Verfassungsschutz sich diese Kategorie selbst gegeben habe. Ohne Auftrag des Gesetzgebers, des Parlaments. „Was das Ganze auch deshalb problematisch macht, weil zu den Hauptaufgaben des Verfassungsschutzes die Sammlung von Informationen gehört, die wiederum der ‚Sensibilisierung der Öffentlichkeit‘ dienen.“ Es gehe der Behörde also, „um es pointiert zu formulieren“, ebenfalls „um die Erzeugung einer bestimmten Stimmung in der Bevölkerung“.
„Der Verfassungsschutz ist keine Meinungspolizei, und wir vermeiden auch jeden Anschein, er könnte eine solche sein“, sagt hingegen Stephan Kramer aus Thüringen. „Deshalb diskutieren wir, sehr sachlich, im gesamten Verbund, ob wir an diesem gesonderten Phänomenbereich festhalten müssen.“ Doch auch wenn der Phänomenbereich abgeschafft würde – die Beobachtung bliebe wohl. Unter anderem Label. Womöglich zeige sich eines Tages, dass es sich um eine neue Spielart des Rechtsextremismus handelt, sagt Kramer.
Rolf Gössner kann davon berichten, was eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz für ein Leben bedeuten kann. Der Publizist und Jurist aus Bremen hat das so lange am eigenen Leib erfahren wie wohl kein anderer Bürger in Deutschland, der keiner als extremistisch geltenden Organisation angehört.
Gössner ist 76 Jahre alt, er lebt in Bremen, hat 40 Jahre lang als Rechtsanwalt und parlamentarischer Berater gearbeitet. Als Student und in seinem Beruf hatte er auch Kontakte zu Kommunisten und zu Gruppen oder Medien, die der Verfassungsschutz als linksextremistisch einstufte; so geriet er selbst in das Visier des Geheimdienstes. Als vermeintlicher Linksextremist. Man nennt das Kontaktschuld. Es passte in die Zeit des Ost-West-Konflikts, des Kalten Krieges, der Studentenbewegung, „politisch aktive und kritische“ Leute wie ihn zu überwachen, sagt er.
Als er Anfang 20 in der Studentenpolitik aktiv wurde, begann die Dauerbeobachtung. Erst als er fast 50 war, erfuhr er davon. Aus dem linken Jurastudenten war ein Strafverteidiger, Sachverständiger und Publizist geworden, der zum Thema „Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat“ promoviert hatte und Bücher schrieb, die Staat, Polizei und Geheimdienst kritisieren. Gössner klagte gegen seine Überwachung, es dauerte noch einmal 15 Jahre, bis das Bundesverwaltungsgericht Leipzig Ende 2020 in letzter Instanz entschied: Er habe nie verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, seine jahrzehntelange Überwachung sei grundrechtswidrig und „in handgreiflicher Weise unangemessen“ gewesen.
Während der Prozess lief, habe der Verfassungsschutz versucht, „ein denunziatorisches Feind- und Zerrbild“ von ihm zu zeichnen. Gössner, der Staatsfeind. Er forderte öffentlich die Abschaffung der Dienste in Bund und Ländern. Auch das darf kein Grund für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz sein, stellte das Gericht fest.
Er habe sich oft Gedanken gemacht, „um mein politisches, mein anwaltliches und mein publizistisches Verhalten“, sich immer wieder gefragt, warum er bestimmte Kontakte und Themen meide. Bestimmte Mandanten habe er zu deren Schutz nur konspirativ getroffen, „das bedurfte oft anstrengender Klimmzüge“, die er nicht genauer preisgeben will, und sei auch ins Geld gegangen. Die Beobachtung habe seine Berufsfreiheit und seine berufliche Praxis mehr als beeinträchtigt.
Ihn verstöre, dass der Verfassungsschutz unter seinen einstigen linken Gegnern und auch in den Medien immer mehr Zustimmung erfahre, seit er hauptsächlich gegen Rechtsextremismus und Terrorismus zu kämpfen scheint, sagt Gössner. Der Dienst bleibe ein Problem, ein Fremdkörper in der Demokratie. „Er ist weder transparent noch wirklich so kontrollierbar, wie sich das in einem demokratischen Rechtsstaat gehört.“
Als Rolf Gössner schließlich sehen wollte, was der Verfassungsschutz in all den Jahren über ihn gesammelt hatte, hat er – auf Geheiß des Gerichts – 2000 Seiten aus seiner Personenakte erhalten. Allerdings zu 80 Prozent geschwärzt. Aus Geheimhaltungsgründen.