Autorius: Elisa David Šaltinis: https://www.anonymousnews.org/... 2024-04-21 15:30:00, skaitė 1020, komentavo 0
Sterbehilfe: Wer entscheidet, wann es vernünftig ist, sterben zu wollen?
von Elisa David
Sollte es einem Menschen möglich sein, selbstbestimmt und würdevoll zu sterben? Diese Frage ist eine ethische, mit der man sich nicht gerne befassen will. Nicht zuletzt, weil man sich kaum darin hineinversetzten kann, wie hoffnungslos jene Menschen sein müssen, die Sterbehilfe fordern und in Anspruch nehmen wollen. Im deutschen Strafgesetzbuch steht der Paragraph 217, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestrafen will.
Doch er ist kursiv geschrieben und mit dem Hinweis versehen, dass das Bundesverfassungsgericht diesen im Jahr 2020 für nichtig erklärt hat. Der Paragraph ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz nicht vereinbar, so das Urteil. Es gibt ein Recht auf Leben, aber keine Pflicht zum Leben.
In der Debatte um die Legalisierung der Sterbehilfe ist eigentlich immer die Rede von leidenden, unheilbar kranken Menschen, die ohnehin am Ende ihres Lebens stehen. Sie haben chronische Schmerzen, werden das Krankenhausbett niemals mehr verlassen und vereinsamen inmitten von Schläuchen und piependen Geräten. Sie wollen nicht weiter verpflichtet sein, zu leben. Der begrenzte Horizont, den man als gesunder Mensch zu so einem Schicksal hat und auch die Überzeugung, dass kein Leben unwert ist, lassen trotzdem die Empathie zu, den Wunsch nach dem Tod doch irgendwie nachvollziehen zu können.
Doch was ist, wenn die Menschen, die durch Sterbehilfe ihr Leben beenden wollen, keine physischen Schmerzen haben, keine finstere Diagnose, wenn sie noch am Anfang ihres Lebens stehen? Wenn sie einfach nur sterben wollen, weil sie depressiv sind? Wenn es in Deutschland die Möglichkeit der Sterbehilfe geben sollte – wo würden ihre Grenzen liegen? Es gibt noch keinen Ersatz für den Paragraphen 217 StGB, der Gesetzgeber hat diese Frage noch nicht beantwortet. Das heißt aber nicht, dass sich in der Zwischenzeit nicht weiter Menschen umbringen – und dass es nicht Menschen gibt, die bereit sind, ihnen dabei zu helfen.
Am vergangenen Montag sprach das Landgericht Berlin ein Urteil, das noch vor Ende des Prozesses als Meilenstein in dieser Debatte antizipiert wurde. Der Berliner Arzt Christoph Turowski stand vor Gericht, weil er seiner Patientin, einer 37-jährigen Frau, die an starken Depressionen litt, bei einem Selbstmordversuch geholfen und bei einem zweiten Versuch ihren Tod verursacht haben soll. Im Prozess stand insbesondere eine Frage im Mittelpunkt: War Isabell R. zurechnungsfähig genug, um in ihren Tod einzuwilligen?
Die drei Jahre Freiheitsstrafe, zu denen Turowski wegen Totschags in mittelbarer Täterschaft im minder schweren Fall verurteilt wurde, wirken zwar wie eine eindeutige Antwort, doch so wirklich sind sie es nicht. Schlussendlich ausschlaggebend war die Ambivalenz des Todeswunsches des Opfers. Sie soll sich immer mal wieder von diesem Wunsch distanziert haben, in Textnachrichten, die die beiden sich stetig schrieben. Insbesondere soll sie es am Morgen des Tattages als „ewiges Hin und Her“ beschrieben haben, für das sie sich entschuldigte.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Arzt kündigte bereits an, sich dagegen wehren zu wollen. Und nach Berichten der Presse soll der vorsitzende Richter die Revision sogar begrüßt haben, damit diese Grundsatzfrage höchstrichterlich geklärt wird. Es gab bereits Fälle in Deutschland, in denen Ärzte für Suizidhilfe freigesprochen wurden – auch Turowski selbst, der 2013 bereits einer anderen langjährigen Patientin mit einer chronischen Darmerkrankung Suizidassistenz geleistet hatte.
Er wurde freigesprochen, in einem Verfahren, das 2019 sogar beim Bundesgerichtshof landete. Abseits von Einzelfällen stellt sich eins sehr eindeutig dar: Es gibt einen Wertungsunterschied zwischen Suizidhilfe für Patienten mit psychischen und Patienten mit körperlichen Krankheiten. Es ist ja auch klar: Äußert ein depressiver Mensch einen Suizidwunsch, ist die naheliegende Reaktion von jedem – und doch insbesondere von Ärzten -, die Person von diesem Wunsch abbringen zu wollen und nicht ihn zu befürworten und umzusetzen.
Relativ parallel findet ein sehr ähnlicher Fall gerade in den Niederlanden statt. Eine junge Frau, 28 Jahre alt, ist schwer depressiv, außerdem hat sie eine Autismus- und ADHS-Diagnose. Sie will sterben. Das steht da deshalb im Präsens, weil sie aktuell noch lebt. In den Niederlanden sind die Gesetze anders als in Deutschland. Dort hat man die aktive Sterbehilfe als erstes Land der Welt bereits 2002 eingeführt. In Anspruch nehmen kann sie salopp gesagt jeder – sogar Kinder ab 12 Jahren mit Zustimmung ihrer Erziehungsberechtigten oder Demenzkranke, wenn eine schriftliche Patientenverfügung vorliegt. Der durchführende Arzt muss diagnostizieren, dass der Patient unheilbar krank ist und unerträglich leidet.
Die junge Zoraya hat keine richtige Arbeit, sie hatte nie die Ambitionen, eine Ausbildung zu beenden. Aber sie lebt mit ihrem Lebensgefährten und ihren Katzen in einem schönen Haus. Sie ist körperlich kerngesund, doch ihr Antrag auf Sterbehilfe wurde genehmigt. Ihr Todestermin ist für den Mai festgelegt. In einem Artikel der Free Press erzählt sie von ihrem Sterbewunsch. Auch davon, dass sie eigentlich Angst hat zu sterben. Doch eine Ärztin soll ihr gesagt haben, dass sie unheilbar depressiv sei. „Es gibt nichts, was wir noch für Sie tun können. Es wird niemals besser werden“, soll sie zu ihr gesagt haben.
Zoraya beschloss daraufhin, sterben zu wollen. „Mir war immer sehr klar: Wenn es nicht besser wird, halte ich das nicht mehr aus.“ In dem Artikel steht nichts über die Reaktion ihres Freundes zu dieser Entscheidung. Zoraya selbst schildert nur, dass sie mit ihm schon auf einem Waldspaziergang entschieden habe, unter welchem Baum er ihre Asche verschütten soll. Sie will kein Grab, weil sie ihren Angehörigen keine Arbeit machen will. Und sie will keine Beerdigung, weil sie nicht glaubt, dass da irgendeiner ihrer Freunde hinwollen würde.
Im Mai wird eine Ärztin zu ihr nach Hause kommen, erzählt Zoraya. Sie wird mit ihr zur Beruhigung erstmal einen Kaffee trinken und sich mit ihr unterhalten. Wenn sie dann bereit ist, legt sie sich auf eine Couch und bekommt nach wiederholter Einwilligung eine Spritze gesetzt. „Schlaf schön“, soll die Ärztin dann zu ihr sagen. Normalerweise sagen Ärzte in dieser Situation wohl „Gute Reise“, doch das will Zoraya nicht: „Schöne Reise? Ich gehe doch nirgendwo hin!“ Alles an diesem Fall ist haarsträubend. Dass ihr Freund das alles so mitträgt, dass sie sich offensichtlich für unwertig hält, dass ihre Ärztin sie so aufgegeben hat. Wenn Zoraya so unbedingt sterben will, wenn das alles so unaufhaltbar ist, warum beging sie keinen Selbstmord? Etwa, weil sie sich nicht traut, weil sie es nicht durchziehen würde? Ist es ein Hilferuf, der Wunsch, dass ihr Freund, ihre Familie, ihre Freunde sie davon abhalten?
Auch in Kanada spielte sich ein ähnlicher Fall ab. Dort wollte eine 27-Jährige, die keine körperlichen Krankheiten hatte, Suizidhilfe in Anspruch nehmen. Wieder unter anderen Gesetzen. In Kanada gab es zuletzt besonders viele Sterbehilfe-Skandale. Hier wurde die medizinische Sterbehilfe – Medical Assistance in Dying (MAiD) – 2016 eingeführt. Zunächst war diese nur für Patienten erhältlich, die todkrank waren. Der häufigste Grund ist schwerer Krebs im fortgeschrittenen Stadium. 2021 wurde die Zielgruppe jedoch ausgeweitet. Auch unheilbar Kranke, die aber nicht in naher Zukunft sterben müssen, können MAiD in Anspruch nehmen. Es braucht aber Gutachten von zwei Ärzten.
Kanada wird häufig dafür kritisiert, dass die Sterbehilfe zu leicht erhältlich, teilweise von Ärzten regelrecht angeboten wird. Oftmals werde MAiD von Menschen in Anspruch genommen, die eigentlich nicht sterben wollen, so der Vorworf. Sie wollen aber keine Last sein oder können sich Behandlungen oder eine angemessene Versorgung nicht leisten. Vielleicht haben sie auch nur die Hoffnung verloren, eine gute medizinische Versorgung zu erhalten.
Der Fall der 27 Jährigen, die nur unter dem Kürzel M.V. bekannt ist, handelt vor allem von ihrem Vater (als W.V. bezeichnet). Eines Tages beschloss seine Tochter, die wie Zoraya autistisch ist und ADHS hat, zu sterben. Ihre Eltern waren geschockt – denn sie wussten nicht, welche Krankheit sie haben soll, sie ist körperlich völlig gesund. Doch nach zwei Durchgängen fand M.V. zwei Ärzte, die ihr die nötigen Gutachten ausstellten. Ihr Vater klagte, argumentierte, seine Tochter sei unerkannt psychisch krank und daher nicht in der Lage, wirksam in die Sterbehilfe einzuwilligen.
Sie habe außerdem wiederholt versucht, von verschiedenen Ärzten Diagnosen für Krankheiten zu erlangen, die aber immer nicht festgestellt werden konnten. Doch das Gericht war nach Kanadischen Recht dazu gezwungen, gegen ihn zu urteilen. Zwar muss man unheilbar krank sein, doch die Tochter musste vor Gericht nicht offenlegen, welche Krankheit sie habe, auch die Symptome nicht – nur dass sie die Antragsprozedur richtig durchlaufen hatte und die qualifizierte Unheilbarkeit von zwei Ärzten festgestellt wurde. Ihre Eltern wissen bis heute nicht, welche Krankheit ihr Leben so unaushaltbar machen soll.
Die Frage, ob es psychisch Kranken möglich sein sollte, in ihren Tod einzuwilligen und Sterbehilfe zu beanspruchen, ist kompliziert. Das Bundesverfassungsgericht entschied in seiner Grundsatzentscheidung, die den Paragraph 217 StGB kippte, dass es Menschen in jeder Lage möglich sein sollte, ihr Leben zu beenden und sich dafür Hilfe zu suchen. Auch psychisch Kranken. Egal in welcher Lebenslage. Man könne alles versuchen, sie davon abzubringen, es dürfe aber keine Wertung der Gründe stattfinden und man müsse die Entscheidung schlussendlich akzeptieren.
Natürlich hebelt das nicht alles aus. Der Sterbewillige muss in der Lage sein, diesen Wunsch selbstständig und eigenständig zu treffen. Doch damit dreht man sich eigentlich nur im Kreis. Wie kann man „vernünftigerweise“ ganz ohne Mängel der Zurechnungsfähigkeit seinem Tod zustimmen? Eigentlich ist das – besonders bei einer Depression, deren Symptom doch gerade der Selbstmordgedanke sein kann – gar nicht möglich. Wenn man in seinen Tod einwilligt, willigt man in seinen Tod ein. Und das ist nichts, was ein normaler zurechnungsfähiger Mensch tun würde.
Dieses Paradoxon breitet sich damit aber ganz grundlegend auf die Sterbehilfe auch für körperlich Kranke aus. Sicher gibt es die Extremfälle, wie eingangs beschrieben. Doch wenn man wegen einer Krankheit sterben will, findet das auch im Kopf statt. Denn klar ist doch erst einmal, dass der durchschnittliche Mensch – auch mit leichten Depressionen, Heuschnupfen, Liebeskummer, Behinderung, Kurzsichtigkeit und den Problemen, die man nun mal hat – nicht sterben will. Der Wunsch nach dem Tod ist erstmal nicht normal, sondern in sich krankhaft.
Und es tut sich eine weitere Debatte auf, die zu Unrecht von der Debatte um die Sterbehilfe überschattet wird. Ist die Sterbehilfe ein Korrektiv von Behandlungsfehlern, mangelhafter Gesundheitsvorsorge und schlechten Ärzten geworden? Ich habe in der Recherche für diesen Artikel unabhängig voneinander mit verschiedenen Psychologen gesprochen. Alle waren sich einig: So etwas wie eine absolut nicht behandelbare Depression gibt es nicht. Die Patienten mögen vielleicht immer eine gewisse Beeinträchtigung haben, doch sie können durch Psychotherapie lernen, ein normales Leben zu leben oder im Ernstfall durch Medikamente behandelt werden. Der Tod aller drei Frauen ist im Grunde unnötig.
Ist die Debatte über Sterbehilfe zu spät angesetzt? Sollte man bei der medizinischen Versorgung anfangen? Zuletzt sorgte der besonders anschauliche und tragische Fall des Kanadiers Normand Meunier für Schlagzeilen. Der 66-Jährige starb am 29. März 2024. Meunier war in seinen Armen und Beinen bereits seit 2022 gelähmt. Doch das war nicht der Grund, weshalb er sterben wollte. Infolge mehrer schwerer Viruserkrankungen wurde er ins Krankenhaus zur stationären Behandlung eingeliefert. Auch diese Krankheit war nicht der Grund für seinen Todeswunsch. Der entwickelte sich erst im Laufe und insbesondere in Folge seines Krankenhausaufenthalts.
Aufgrund seiner Lähmung konnte er sich selbstverständlich nur stark eingeschränkt eigenständig bewegen. Seine Frau hatte das Pflegepersonal darauf hingewiesen, dass Meunier wegen seines Zustandes auf eine spezielle Matratze angewiesen ist, diese hatte das Krankenhaus jedoch nicht vorrätig. Für vier Tage lag Meunier auf einer Trage in der Notaufnahme in der gleichen Position. Durch den Druck des Körpergewichts beim Liegen können auf Dauer besonders belastete Körperteile geschädigt werden, eine Wirkung, die auch als Wundliegen bezeichnet wird.
Patienten wie Meunier sind dafür anfällig, weshalb diese Patienten im Krankenhaus eigentlich von Pflegepersonal regelmäßig umgelegt werden müssen. Ansonsten können sich sogar tiefe Wunden bilden – wie es bei Meunier der Fall war: An seinem Gesäß entwickelte sich ein Druckgeschwür, durch das Muskel und Knochen in einer offenen Wunde freigelegt und sichtbar wurden, diese offene Wunde hatte einen Durchmesser von mehreren Zentimetern.
Der Heilungsprozess solcher Wunden ist lang und schmerzhaft. Meunier ließ zunächst mehrere Operationen über sich ergehen, in denen abgestorbenes Gewebe entfernt wurde, um den Heilungsprozess zu fördern. Doch irgendwann wollte er das Leiden nicht mehr aushalten und beschloss, sein Leben durch MAiD zu beenden. „Ich verstehe nicht, wie das passieren kann, denn eine Matratze ist das Grundlegendste., sagte seine Ehefrau gegenüber Radio-Canada. Meunier hatte zuvor schon öfter Wunden infolge von Wundliegen erlitten, jedoch war keine davon so extrem wie seine letzte.
„Medizinische Sterbehilfe ist einfacher und regelmäßiger verfügbar als einige der grundlegendsten Pflegemaßnahmen“, sagte Trudo Lemmens, Professor für Gesundheitsrecht an der Universität von Toronto, gegenüber CBC Canada. Viele Patienten wollen keine Last sein. „Und dann antwortet das Gesundheitssystem: Nun, Sie haben Zugang zu medizinischer Sterbehilfe.“
Im Fall der deutschen Isabell R. war ein Schwerpunkt des Prozesses: Inwieweit hatte sie den Prozess selbst in der Hand und inwieweit hat ihr Arzt sie quasi als willenloses Werkzeug gegen sich selbst genutzt, indem er ihr den Zugang in eine Vene legte, damit sie sich das tödliche Medikament verabreichen konnte? In Deutschland gibt es keine einheitliche gesetzliche Regelung, deshalb hat das Gericht mit einer Palette an Tötungsdelikten zu arbeiten, Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen – wie bei jedem anderen Tötungsdelikt auch. In Deutschland fordern Strafrechtler, dass sich das ändert und endlich für Klarheit gesorgt wird.
Doch wäre das wirklich besser? Wenn die Entscheidung von Ärztinnen getroffen wird, wie in Zorayas Fall, die ihre Patientinnen aufgegeben haben? Wenn gutachterliche Befunde nicht durch Gerichte hinterfragt werden, wie im Fall von M.V.? Wenn Opfer von medizinischem Versagen durch Ärzte den Freitot durch Ärzte wählen, wie im Fall von Meunier?
Klar ist jedenfalls: Es geschehen unvermeidbar Fehler – ob mit Regelung wie in Kanada und der Niederlande oder ohne, wie in Deutschland. Doch es wird unweigerlich mehr Fehler geben, wenn es mehr Fälle gibt. Und die werden verursacht durch Fehler im System, Probleme, die nicht behoben werden. Und wenn der Ausweg in den Tod auf Flyern im Krankenhaus bereit steht.