Autorius: Karsten Montag Šaltinis: https://www.anonymousnews.org/... 2023-09-04 18:57:00, skaitė 494, komentavo 0
Reporter-Legende: US-Journalist Seymour Hersh
von Paul Schreyer und Karsten Montag
Nachdem die Nord Stream-Pipelines im September 2022 gesprengt wurden, erschienen in den Medien zunächst keine konkreten Hypothesen zur Urheberschaft – abgesehen von einem pauschalen Verdacht gegenüber Russland. Erst nachdem der damals bereits 85-jährige Reporter Seymour Hersh im Februar 2023 Recherchen vorlegte, wonach US-Präsident Biden den Terroranschlag befohlen hätte, tauchten in rascher Folge alternative Theorien zum Tathergang auf. Die Bundesregierung kommentierte Hershs Bericht nicht. Der Journalist selbst schätzte die Situation im April so ein:
„Die Gasversorgung eines Verbündeten in die Luft zu jagen, so dass der deutsche Bundeskanzler heute Probleme dabei hat, für den Wohlstand und die warmen Stuben seiner Bürger zu sorgen, das ist nicht klug. Ich weiß nicht, was mit Scholz passieren wird. Ich weiß es wirklich nicht. Ich spreche mit Leuten aus dem Bundestag, aber da scheint nichts voranzugehen. Wo bleibt der deutsche Bericht? Wann wird der veröffentlicht? In 3.000 Jahren? (…) Scholz´ Hauptproblem ist, dass er seit meiner ersten Nord-Stream-Story zu einem Kollaborateur geworden ist. Er hat nichts dementiert, nicht protestiert, nichts untersucht. Zumindest hätte er irgendeinen Kommentar abgeben müssen, so etwas wie: ‘Wir werden das sehr genau untersuchen, das ist eine sehr ernsthafte Anschuldigung…’ Aber nichts davon.“
Ende Mai bestellte nun Moskau die Botschafter Deutschlands, Dänemarks und Schwedens ein und kritisierte nachdrücklich die mangelnde Zusammenarbeit dieser Staaten bei der Aufklärung des Anschlags. Das russische Außenministerium protestiere damit nach eigenen Worten gegen ein „vollständiges Fehlen von Resultaten“ bei den Ermittlungen. Keines der Länder teilt bislang seine Ermittlungsergebnisse mit Russland, offizielle Untersuchungsberichte wurden nicht veröffentlicht.
Einig sind sich Politik und etablierte Medien in der Ablehnung – oder vollständigen Ignorierung – der Hersh-Recherchen. Diese seien unbelegt, seine anonymen Quellen nicht überprüfbar, er selbst wenig glaubwürdig. So schrieb der SPIEGEL, Hershs Glaubwürdigkeit hätte „in den vergangenen Jahren stark gelitten, da er mehrfach durch fragwürdige Recherchen aufgefallen“ sei. T-online erklärte unter der Überschrift „Starreporter mit zweifelhaftem Ruf“, der Journalist habe „gerade in der jüngeren Vergangenheit häufiger Recherchen abgeliefert, die zu zweifelhaften Ergebnissen kamen und sich später als nicht ganz richtig herausstellten.“ Fast wortgleich berichtete die Tagesschau, Hersh sei „zuletzt mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen“ und verbreite „Verschwörungserzählungen“. Die negativen Zuschreibungen wurde sämtlich nicht näher erläutert oder begründet.
Scharfe Kritik an Hersh ist nicht neu. Der Reporter deckte in den vergangenen mehr als 50 Jahren wiederholt Tatsachen auf, die enorme politische Relevanz entfalteten und oft öffentliche Empörung hervorriefen. Eine Auswahl zeigt, dass die aktuellen negativen Reaktionen auf seine Arbeit in einer jahrzehntelangen Tradition stehen.
Der damals 30-jährige Hersh deckte in seiner ersten großen Enthüllung 1967 die vielfältigen Pentagon-Programme zur Herstellung chemischer und biologischer Waffen auf – und kompromittierte damit die US-Regierung. Die Nachrichtenagentur AP, für die Hersh zu dieser Zeit als Investigativreporter arbeitete, schrieb seinen Artikel ohne Absprache mit Hersh so um, dass die Regierung in besserem Licht erschien. Hersh kündigte zwei Monate später bei AP und schrieb ein Buch über die Waffenprogramme: „Chemical and biological warfare: America’s hidden arsenal“. Er machte auch die Namen der Universitäten öffentlich, die für das Militär an chemischen und biologischen Waffen forschten. Als empörte Studenten dort nachfragten, leugneten die Universitäten, an gefährlicher Waffenforschung beteiligt zu sein. Große Medien mieden das Thema. Hersh kommentierte dazu in seien Memoiren: „Ich verstand, dass es viel leichter war, ein offizielles Dementi zu akzeptieren, als sich in ein schwieriges und kontroverses Thema zu vertiefen.“
Den Bericht zum Massaker der US-Armee in My Lai, Vietnam, seine bekannteste Enthüllung, bot Hersh zunächst der New York Times und anderen Leitmedien zur Veröffentlichung an – die ablehnten. Der Reporter erhielt 1970 schließlich den Pulitzer-Preis für seine aufwändige Recherche.
Wesentliche Elemente der Watergate-Affäre wurden von Hersh veröffentlicht, der damals für die New York Times tätig war. Er beschreibt in seinen Memoiren, gegen welche Widerstände er seine regierungskritischen Recherchen dort veröffentlichte, insbesondere wenn der US-Präsident dadurch direkt angegriffen wurde. Hersh zitiert Bill Kovach, den damaligen Washingtoner Bürochef der New York Times, dass die Zeitung „große Angst davor hatte, eine kontroverse Recherche, die die Glaubwürdigkeit der Regierung angriff, als erste zu veröffentlichen“.
Hersh deckte auf, dass US-Präsident Richard Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger gelogen hatten, als sie eine US-Beteiligung am Militärputsch in Chile 1973 leugneten. In einem internen Memorandum empfahlen Kissingers Berater im September 1974, dass eine direkte, öffentliche Leugnung der Vorwürfe durch den CIA-Chefs „die effektivste Methode“ wäre, Hershs Artikel zu begegnen. Dies sei dringlich, denn „je länger Hershs Vorwürfe ohne Entgegnungblieben, „desto glaubwürdiger“ würden sie.
Hersh enthüllte das illegale CIA-Programm zur Überwachung und Unterwanderung der Antikriegsbewegung (Operation Chaos). Seine Berichte führten zur Bildung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Einige etablierte Medien kritisierten den Journalisten: seine bisherigen Recherchen seien zwar hervorragend gewesen, der jüngste Bericht zum illegalen CIA-Programm aber „übertrieben“.
Eine Parallele zu seinen aktuellen Nord Stream-Recherchen: Hersh deckte 1975 ein Spionageprogramm der US-Navy innerhalb der Küstengewässer der Sowjetunion auf (Operation Holystone). Der spätere Verteidigungsminister und US-Vizepräsident Dick Cheney – damals Stellvertreter des Stabschefs im Weißen Haus, Donald Rumsfeld – schlug daraufhin intern vor, Hershs Wohnung durchsuchen zu lassen.
Hersh legte dar, dass die Bombardierung der Al-Shifa-Arzneimittelfabrik im Sudan im August 1998 – die von der US-Regierung fälschlich als Chemiewaffenfabrik bezeichnet wurde – erfolgt war, um vom innenpolitischen Druck abzulenken, unter dem Präsident Clinton im Zuge der Lewinsky-Affäre stand. Clinton gab am 17. August 1998 vor Gericht zu, dass er eine „unangemessene Beziehung“ zu seiner Praktikantin Monica Lewinsky gehabt hatte. Drei Tage später ließ er die Fabrik in Afrika bombardieren. Hersh deckte den Widerstand innerhalb von Militär und Geheimdiensten gegen den Beschluss zur Bombardierung auf.
Hersh löste mit seinen Recherchen den Abu Ghraib-Folterskandal aus. US-Militärs hatten im Irak im großen Ausmaß Gefangene grausam misshandelt, mit Rückendeckung der US-Regierung. Das Pentagon leugnete zunächst, mit Verweis auf Hershs anonyme Quelle: „Der Artikel von Seymour Hersh im New Yorker Magazine dieser Woche basiert offenbar auf einer einzigen anonymen Quelle, die dramatisch falsche Behauptungen aufstellt. Die Beweislast für diese falschen Behauptungen liegt beim Reporter. Diese Behauptungen über die Aktivitäten in Abu Ghraib und den Missbrauch irakischer Häftlinge sind abwegig, verschwörerisch und voller Irrtümer und anonymer Vermutungen.“
Hersh deckte auf, dass die US-Regierung wusste, dass auch die syrischen Rebellen in der Lage waren, Giftgas zu produzieren und der Giftgasangriff von Ghuta im August 2013 nicht eindeutig der syrischen Regierung zuzuordnen war, wie es die US-Regierung behauptet hatte – und womit sie erwog, einen offenen Krieg gegen Syrien zu beginnen, was Präsident Obama erst in letzter Minute, durch russische Vermittlung, im September 2013 stoppte. Hershs Recherche war von mehreren US-Leitmedien abgelehnt worden. In einem Anschlussartikel legte Hersh 2014 dar, dass der Anschlag von den syrischen Rebellen mit Hilfe der Türkei durchgeführt worden war.
Seymour Hersh kommt im heutigen Journalismus eine Sonderrolle zu, da sich seit nunmehr über 50 Jahren regelmäßig hochrangige Mitarbeiter von Militär und Geheimdiensten, die einzelne Entscheidungen ihrer Regierung für falsch halten, vertraulich an ihn wenden. Diese Hinweisgeber wollen mit Hilfe des Reporters öffentlichen Druck aufbauen, ohne dabei ihre eigene Karriere oder ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. In Hershs Enthüllungsberichten geht es immer wieder um Lügen der Regierung. Seine Recherchen – von der geheimen Biowaffenforschung über Watergate bis hin zu Abu Ghraib und Nord Stream – sind oft so brisant und potenziell gefährlich für die Hinweisgeber, dass ohne deren Anonymisierung eine Veröffentlichung in der Regel nicht möglich wäre.
Die eingangs aufgeführte, von vielen etablierten Medien aufgestellte Behauptung, Hershs Glaubwürdigkeit hätte „in den vergangenen Jahren stark gelitten, da er mehrfach durch fragwürdige Recherchen aufgefallen“ wäre (Spiegel), er „zuletzt mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen“ sei (Tagesschau) und „gerade in der jüngeren Vergangenheit häufiger“ Recherchen abgeliefert hätte, „die zu zweifelhaften Ergebnissen kamen und sich später als nicht ganz richtig herausstellten“ (t-online), ist unbelegt und in doppelter Hinsicht falsch: