Armenbashing: Wie Medien und Politiker auf das teilweise Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen reagieren

Autorius: RT Šaltinis: https://deutsch.rt.com/meinung... 2022-05-27 19:25:00, skaitė 631, komentavo 0

Armenbashing: Wie Medien und Politiker auf das teilweise Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen reagieren

Obdachloser auf der Königsallee in Düsseldorf, 15.12.2021.

Der Bundestag hat beschlossen, einen Teil der Hartz-IV-Sanktionen vorübergehend aufzuheben. Das bringt die Front der Neoliberalen zum Kochen. Medien und Politiker greifen dabei zu bekannten Kniffen: Lohnabhängige gegeneinander ausspielen und Vorurteile schüren.

von Susan Bonath

Geschlossene Firmen und Gaststätten, Auftrittsverbote für Künstler, mickriges Kurzarbeitergeld: Der Corona-Lockdown hat so manchen Bundesbürger gelehrt, mit Hartz IV über die Runden zu kommen. Mehr als fünf Millionen Menschen sind aktuell darauf angewiesen. Sie müssen sich wohlverhalten, andernfalls wird der immer weiter hinter der Teuerung herhinkende Regelsatz gekürzt. Doch kaum hat der Bundestag beschlossen, Hartz-IV-Sanktionen von mehr als zehn Prozent für ein Jahr auszusetzen, schießt ein Teil der Medien und Politiker dagegen. Armenbashing ist wieder einmal angesagt.

Armenbashing und Spalterei

So ließ etwa der Focus einen angeblichen Hartz-IV-Bezieher beteuern, der Regelsatz für Alleinstehende von 449 Euro monatlich zuzüglich einer Mietbeilhilfe sei "eigentlich zu viel". Das Blatt lässt ihn sodann Tipps geben, wie man sparen könne: Strickjacken tragen statt heizen, Wasser für das Drei-Minuten-Ei im Wasserkocher erwärmen, nur noch zweimal die Woche duschen und so weiter. Einige Betroffene dürften die Ausführungen an das "Hartz-IV-Kochbuch" des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin im Jahr 2008 erinnern.

Der Münchner Merkur spielt beschäftigte gegen arbeitslose Lohnabhängige mit der Fleißkeule aus. "Wer fleißig ist, ist künftig der Dumme", titelte er und wetterte gegen das Aussetzen einiger Kürzungen: Es könne nicht sein, dass nicht bestraft werde, wer künftig ein Jobangebot ablehne oder eine Maßnahme abbreche. Das Blatt zitierte auch eine Jobcenter-Mitarbeiterin, die ihren Namen nicht nennen wollte, mit den Worten:

"Das ist eine Katastrophe, wenn sie künftig Jobs annehmen oder Auflagen erfüllen sollen, tanzen uns die Hartz-IV-Empfänger auf dem Kopf herum."

Das Magazin Cicero baute noch eine ausländerfeindliche Komponente ein. So sei das Aussetzen der Sanktionen laut dem ehemaligen Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Heinrich Alt, "besonders gegenüber Migranten ein verheerendes Signal". Damit werde "den ausländischen Mitbürgern signalisiert: Ihr kriegt euer Geld ohne jede Verpflichtung". Das kolportiert nicht nur das Klischee vom "faulen Ausländer", der nur deutsche Sozialleistungen abgreifen wolle, und spielt so deutsche gegen ausländische Betroffene aus. Es liest sich, überspitzt gesagt, wie eine Drohung: Ihr sollt gehorchen oder in eurer Heimat hungern.

Unzureichende Leistungen

Mit Fakten haben alle diese Artikel aber wenig zu tun. Die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze basiert zum größten Teil auf der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Diese gibt das Statistische Bundesamt allerdings nur alle fünf Jahre heraus. Die letzte stammt aus dem Jahr 2018, erstmals eingeflossen ist sie 2020. Zugrunde gelegt werden aber nur die ermittelten Haushaltsausgaben der ärmsten 15 Prozent der untersuchten Haushalte.

Darüber hinaus rechneten die Verantwortlichen zahlreiche Kosten aus den bereits am untersten Limit ermittelten Budgets wieder heraus, etwa für Imbissverpflegung außer Haus, Zimmerpflanzen, alkoholische Getränke, Malstifte für Kinder und vieles mehr. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kritisierte 2020 eine "extreme Pfennigfuchserei".

Schon bei der Einführung von Hartz IV 2005 rügten Sozialverbände und die damalige PDS, heute Die Linke, dass die Regelsätze massiv kleingerechnet und unzureichend seien. Seither stiegen sie für Alleinstehende von 345 auf 449 Euro – rund 30 Prozent. Die Inflation in diesem Zeitraum betrug nach Angaben der Bundesstatistiker allerdings 36 Prozent – heißt: Waren des alltäglichen Gebrauchs kosten im Mittel 36 Prozent mehr als vor 17 Jahren. Die Hartz-IV-Sätze sind also real noch weiter gesunken.

Betrachtet man die Zusammensetzung der Leistungen, wird eine gewisse Realitätsferne der Politiker sehr deutlich. Für Alleinstehende sind aktuell zum Beispiel rund 155 Euro für Lebensmittel und Getränke für den gesamten Monat einkalkuliert. Pro Woche dürften sie also etwa 36 Euro fürs Essen ausgeben. Für ein Kleinkind unter sechs Jahren kommen 23 Euro oben drauf, für 6- bis 13-Jährige gibt es 25 Euro, ältere Minderjährige sollen von 30 Euro eine Woche lang ernährt werden. Ein Paar ohne Kinder darf zusammen 70 Euro fürs Essen ausgeben. Bei den aktuell massiv steigenden Lebensmittelpreisen ist es die logische Folge, dass die Kühlschränke Betroffener leerer werden.

Auch ein weiterer Posten sticht ins Auge: Die einkalkulierten Ausgaben für Strom, die in dem Posten "sonstige Wohnnebenkosten, Energie und Wohninstandhaltung" subsummiert sind. Problem: Für eine alleinstehende Person gibt es für all das zusammen nur 38 Euro. Das reicht in aller Regel nicht einmal für die Stromrechnung, wie diese Übersicht zeigt. Anbieter legen für Ein-Personen-Haushalte einen Jahresverbrauch von mindestens 1.300 Kilowattstunden zugrunde. Dafür sind demnach in allen Bundesländern bereits zwischen 40 und 50 Euro fällig – Tendenz steigend.

Linke kritisiert "Mogelpackung"

Hinzu kommt, dass viele arme Menschen veraltete Elektrogeräte nutzen müssen, da ihnen das Geld für eine neue, stromsparende Waschmaschine oder einen entsprechenden Kühlschrank fehlt. Es mangelt ihnen auch an Bonität, weshalb sie oftmals mit einem teureren Energieversorger Vorlieb nehmen müssen. Außerdem erhalten viele Haushalte, die auf Hartz IV angewiesen sind, nicht die volle Miete, weil ihre Wohnkosten über den von Kommunen festgesetzten Obergrenzen liegen. Also müssen Betroffene die Mehrkosten irgendwie kompensieren, indem sie etwa auf Kleidung verzichten, an Arzneimitteln sparen und keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen. Nicht wenige landen in der Schuldenfalle.

Nun müssen Hartz-IV-Bezieher obendrauf auch Kürzungen der Minisätze fürchten. Bis 2019 konnten Jobcenter sogar für drei Monate Sanktionen bis zu 100 Prozent verhängen. Bei 15- bis 24-Jährigen reichte es dafür aus, sich nicht genügend auf Stellen beworben zu haben. Ältere wurden bei mehreren "Regelverstößen" in Stufen sanktioniert: 30, 60 und 100 Prozent. Für versäumte Termine droht eine Kürzung von zehn Prozent. Im November 2019 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Sanktionen von mehr als 30 Prozent für "derzeit unzulässig".

Die Zehn-Prozent-Kürzungen bleiben auch nach dem Bundestagsbeschluss vom 19. Mai bestehen, ausgesetzt werden nur höhere Strafen. Die Linken-Abgeordnete Jessica Tatti sprach daher von einer "Mogelpackung". Es gehe, sagte sie, immerhin um 45 Euro, "das ist für Betroffene viel Geld, besonders bei der gegenwärtigen Inflation". Sie kritisierte, dass es je nach Auslegung des Gesetzes sogar möglich sei, derzeit ausgesetzte Sanktionen nächstes Jahr nachträglich zu verhängen. Sie mahnte: "Strafen helfen nicht, sie zwingen Menschen nur in miese Jobs." Ihre Partei hat sich der Stimme enthalten.

In der Tat: Auch dank geringer Sozialleistungen und drakonischer Strafen, durch die Betroffene in schlecht entlohnte Jobs nicht selten weit unter ihrer Qualifikation genötigt werden, konnte sich ein riesiger Niedriglohnsektor ausbreiten. Dies war auch explizit das Ziel von Hartz IV, was Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vor der Einführung im Jahr 2005 freimütig eingeräumt hatte.

Trumpfkarte der Neoliberalen

Union und AfD votierten derweil gegen jede Aussetzung von Hartz-IV-Sanktionen. Der CDU-Abgeordnete Kai Whittaker warf den Regierungsfraktionen vor, mit diesem Schritt "beenden Sie ein für alle Mal das Prinzip fördern und fordern". Wer sich weigere, eine zumutbare Arbeit anzunehmen, dürfe nicht weiter von der Gesellschaft bezahlt werden, wetterte er. Was allerdings zumutbar ist, bestimmen die Jobcenter.

AfD-Mann Hannes Gnauck nannte den Sozialstaat ein "Erfolgsmodell", das "unsittliches Verhalten bestraft". Dieses trage die Regierung zu Grabe. Sanktionen, so ist er überzeugt, verhinderten die Zerstörung des Sozialstaats. Er fügte an: Die Behörden bräuchten "ein Druckmittel, um Arbeitsunwillige zu bestrafen".

Das Klischee des faulen Arbeitslosen, das schon vor 2005 in Gestalt von "Florida-Rolf" oder Arno Dübel durch die Titelseiten von Bild und Co. gejagt wurde, lebt. Es ist die Trumpfkarte der Neoliberalen, um Sozialabbau und Vermögensumverteilung nach oben zu rechtfertigen. Fragt sich nur, ob Arbeitsunwilligkeit möglicherweise auch in der Politik und den Behörden grassiert – etwa dann, wenn es um die Interessen der Ärmsten geht, oder aktuell auch schlicht um Grundrechte für alle.