Autorius: Karin Kneissl Šaltinis: https://de.sputniknews.com/kom... 2020-11-24 00:35:00, skaitė 972, komentavo 0
Zwischen Staaten bestehen Interessen, nicht Freundschaften. Dieser alte Grundsatz der Realpolitik war stets mein Leitmotiv im Ministeramt. Demonstrativen Freundschaftsbezeugungen, die sich bloß Fotos widmen, konnte ich wenig abgewinnen. In der Außenpolitik geht es vorrangig darum, unterschiedliche nationale Interessen zusammen zu führen und den Ausgleich zu finden. Das erfordert viel Einsatz hinter den Kulissen, Fingerspitzengefühl und Zeit.
Zwischen den handelnden Personen kann die persönliche Chemie jedoch entscheidend dazu beitragen, dass die politische Beziehung einer Belastungsprobe standhält. Es sind immer noch Menschen mit ihren Talenten und ihren Erfahrungen, welche die Diplomatie gestalten. Je dichter eine ernsthafte Besuchsdiplomatie ist, umso mehr Kanäle können genützt werden, wenn es politisch bzw. in der veröffentlichten Meinung zur Verstimmung oder gar Auseinandersetzung kommt. Auf EU-Ebene hat sich das Verhältnis zu Moskau spätestens seit dem Frühjahr 2014 nachhaltig verschlechtert. Sanktionen und Gegensanktionen infolge der Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine bestimmen die Beziehungen. Zwischen Wien und Moskau besteht grundsätzlich ein intensiv getakteter Besuchskalender, der seit Jahrzehnten funktioniert und so manchem schwankenden Stimmungsbarometer mit Unterbrechungen standhält.
Will man Diplomatie auf eine mathematische Formel bringen, dann würde diese lauten: Diplomatie = den Dialog unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. Gerade im Verhältnis zwischen Brüssel und Moskau insgesamt sowie auch im Fall der bilateralen Beziehungen zwischen vielen EU-Mitgliedern und der Russischen Föderation musste ich als Ministerin die wachsende Sprachlosigkeit feststellen. Auf EU-Seite lesen wir einander wohlbekannte Positionen in Gestalt oft inhaltsloser aber umfassend untereinander abgestimmter Positionen vor. Der diplomatische Radius ist klein geworden. Was Diplomatie einst ausmachte, nämlich die Fähigkeit, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, um Probleme zu lösen, ist infolge eines Niedergangs des diplomatischen Handwerks verloren gegangen. Wir befinden uns im Patt, denn anstatt miteinander vernünftig im Gespräch zu bleiben, belasten Emotionen die Beziehungen. Eine Art Dauerempörung und geradezu Obsession von wegen „die Russen sind schuld“ musste ich in vielen Gesprächen feststellen. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten sind nicht so glänzend, wie bei offiziellen Reden gerne betont wird. Vielmehr dominiert die Ambivalenz, die auch Ausdruck der Unterschiedlichkeit zwischen einer Weltmacht und einem Kleinstaat ist.
Mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow, der dank seiner langen beruflichen Erfahrung über einen internationalen Gesamtblick verfügt, durfte ich bald eine exzellente Gesprächsbasis aufbauen. Ist ein Termin fixiert oder wird um ein Telefonat gebeten, so werden diese eingehalten. Das gilt bedauerlicherweise für die Pflege der Beziehungen unter EU-Kollegen nicht im selben Umfang. Geistreiche Konversation, in welcher feiner Humor nicht zu kurz kommt, ist ein seltenes Gut in unserer Zeit; umso mehr wusste ich die Treffen mit Außenminister Lawrow zu schätzen, ein Gentleman und außergewöhnlicher Gesprächspartner. Ich glaube, dass die Wertschätzung von Anbeginn eine wechselseitige war. Die Reziprozität ist bekanntlich der Motor von allem, jedenfalls in den internationalen Beziehungen.
Auch wenn es protokollarisch nicht vorgesehen ist, führte ich als österreichische Außenministerin mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mehrere Gespräche im kleinen Kreis zwischen 2018 und 2019. Rar sind die Entscheidungsträger in unserer Zeit, die sich kundig zwischen den Themen bewegen, über Menschenkenntnis verfügen und zuhören. Dieser vertrauliche Gedankenaustausch mit einem echten Staatsmann zählt zweifellos zu den interessantesten Momenten meiner Amtszeit. Eine institutionalisierte Kooperation zwischen Russland und Österreich zu beginnen, war eine meiner Prioritäten.
Knapp vor dem Sturz der österreichischen Bundesregierung am 29. Mai 2019 infolge eines Misstrauensvotums unterzeichneten wir die Vereinbarung für den Sotschi-Dialog auf Ebene der Außenminister und der Staatspräsidenten in der Stadt Sotschi am Schwarzen Meer. Gemeinsam hatten wir mit unseren jeweiligen Arbeitsgruppen ein ambitioniertes und vielfältiges Programm erarbeitet, um neben der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit innerhalb des Rahmens der EU-Sanktionen vor allem gesellschaftlichen und kulturellen Austausch zu vertiefen. Zudem wollten wir die russischen Regionen wie auch die österreichischen Bundesländer intensiv einbinden. Deutschland hatte mit Russland den „Petersburger Dialog“ gestartet, das bilaterale Format zwischen Frankreich und Russland nennt sich Trianon-Dialog. Auf russische Initiative sollte auch der Trilog zwischen diesen Kooperationen vertieft werden. Manches hatten wir auf den Weg gebracht, anderes stockt. Daran hat nicht nur die Pandemie ihren Anteil. Sie ist auch in diesem Fall nicht Ursache, sondern bloß Verstärker bestehender Probleme.
Es ist vielmehr besagte Ambivalenz, die Störmanöver auslöst; mal gehen sie von Wien aus, dann nehmen sie wieder ihren Anfang in Moskau. Völlig unverständlich ist für die russischen Behörden die österreichische Asylpraxis für Tschetschenen, was immer wieder für konsularische Probleme sorgt. Die tschetschenische Community in Österreich ist infolge der sehr hohen Anerkennungsrate der Asylwerber eine der größten außerhalb der Russischen Föderation. Ein Spionagefall mit reziproker Ausweisung von Botschaftspersonal, ein neu aufgeflammter Konflikt um vermeintliche Vergiftungen, Streit um Pipelines oder Cyberattacken können allerhand Porzellan zerschlagen, das es zu kitten gilt. Wir sind in einer absurden Zeit, in der archaisch anmutende Vorhaltungen, wie Giftmord, auf die asymmetrischen Bedrohungen des Computerzeitalters treffen. Apropos Gift: Als ich im Frühjahr 2018 aus Moskau zurückkehrte und kurz danach erkrankte, titelten einige österreichische Blätter: „Wurde die Außenministerin in Moskau vergiftet?“. Die Antwort lautet: nein.
Als dann im August 2020 rund um mögliche Spuren zur Vergiftung des russischen Bloggers Alexej Nawalny der österreichische Blätterwald wieder heftig vor Gerüchten und Verschwörungstheorien nur so rauschte, verkündeten einige österreichische Redaktionen, dass die Formel für das Nervengift Novitschok über meinen Schreibtisch als Ministerin gegangen sei. Kommentatoren schrieben beinahe wöchentlich über meine indirekte Verantwortung für den Gesundheitszustand von Herrn Nawalny, der glücklicherweise bald wieder von einer an sich tödlichen Vergiftung genesen war. Nawalny war während einer Reise in Russland erkrankt und wurde auf Bitte seiner Familie in eine Berliner Klinik gebracht, wofür sich auch der Kreml einsetzte. Giftmischerei zählt zu jenen Vorwürfen, die bekanntlich bis ins 17. Jahrhundert gegen Hexen erhoben wurden. Es ist erschreckend, wenn sie die Berichterstattung im Jahr 2020 mitprägen, aber gewisse Denkmuster scheinen unzerstörbar.
Was mich bei der Lektüre besonders irritierte, war diese Phobie, die jegliche rationale Berichterstattung zu Russland überschattete. Als mediale Angriffsfläche erhielt ich regelmäßig meinen Seitenhieb, weil ich einen Walzer mit Präsident Putin getanzt hatte. Dieses Bild wurde in den österreichischen Medien zum Inbegriff einer unerwünschten Nähe zu Russland hochstilisiert. Von einer sachlichen Analyse blieb nichts übrig, es ging nur mehr um irrationale mediale Verurteilung. Der Dorfbrunnen, an dem einst in der Geschichte die Gerüchte ihren Ausgang nahmen, steht heute in vielen Großraumbüros. Den Rest erledigen dann die sozialen Netzwerke, wo moralische Empörung und Ignoranz einander befeuern. Recherchieren, Bücher lesen und Reflektieren sind kulturelle Errungenschaften, die vielerorts verloren gegangen sind. Den Büchern verdanke ich fast alles.
Dieser Beitrag ist ein persönlicher Blick auf das Thema. Nicht Fußnoten und diverse grundsätzliche Aussagen, sondern ausschließlich meine Überlegungen sollten in den Text einfließen. In diesem Sinne darf ich anmerken: Erst im Mai 2014 besuchte ich Moskau, um endlich jene Stadt zu bereisen, die mir bis dato zwar aus der Literatur wohl bekannt, aber sonst eine große Unbekannte war. Zwei Jahre später ging es dann nach St. Petersburg.
So hatte ich zwar als Touristin auf eigene Faust diese beiden Städte besucht, sogar die Oper genossen und war begeistert mit der Metro gefahren, aber ich hatte nicht Russland bereist. Bis heute war dies leider noch nicht der Fall, denn weder kenne ich abgelegene Dörfer noch die großen Städte in den elf Zeitzonen des riesigen Landes. Ich bin daher ignorant, wenn es um persönliche Begegnungen mit dem Land und seinen Menschen geht. Die Erkenntnisse, die ich Jahre später über die russische Kultur, die Politik und vor allem die Geschichte zu gewinnen versuchte, holte ich mir aus der Literatur. Ich verschlang regelrecht die Novellen, Romane und Gedichte von Lew Tolstoi, Anton Tschechow, Fjodor Dostojewski, Wladimir Majakowski, sowie Marina Zwetajewa. Michail Bulgakow würde mich bald besonders faszinieren, denn solcher Humor sucht seinesgleichen.
Bei meinem ersten Ausflug nach Moskau baute ich einen Abstecher nach Jasnaja Poljana, dem einstigen Landgut von Lew Tolstoi, ein. Welch ein Gefühl durch die Salons mit den Thonet Möbeln aus Wien zu flanieren, wo einst Pasternak zum Tee kam, wo über eine andere bessere Welt und menschliche Abgründe debattiert und geschrieben wurde. Die Apfelbäume standen in voller Blüte, und ich genoss den Spaziergang zwischen den Schülergruppen. Am Grab Tolstois, einem einfachen Grashügel, stehen zu dürfen, war für mich ebenso bewegend, wie dann als Ministerin der Besuch der Wohnung von Bulgakow im März 2019; immerhin bewohnt immer noch eine Katze diesen besonderen Ort. Im Roman „Meister und Margarita“ führt der sprechende Kater Behemoth durch ein surreales Moskau, das mich zu faszinieren begann.
Diese Beziehung zur russischen Literatur baute ich mir in den 1990er Jahren auf. Zuvor war auch mein Bild von Russland eben jenes der Sowjetunion, wie es uns in der Schule und allgemein vermittelt wurde: eiskalt, weit weg, bedrohlich und überhaupt unzugänglich.
Meine Wahrnehmung als Kind war vor allem von den Schauergeschichten aus dem Krieg geprägt, die Familienangehörige immer wieder aufs Neue erzählten. Vielleicht war das Reden auch besser als das Schweigen. „Der Russe“ als Feindbild schlechthin sollte in diesen Erzählungen immer wiederkehren. Die Gnade der späten Geburt hatte mir die Nachkriegsjahre erspart. Im Dorf südöstlich von Wien, in das ich vor bald einem Vierteljahrhundert zog, hörte ich wieder so manche grausame Erinnerung vor allem von den damals bereits über 80jährigen. Sie erzählten von Vergewaltigungen und von verschwundenen Menschen in der sowjetischen Besatzungszone. Ich hörte aber auch die kleinen Geschichten von heimgekehrten Soldaten, die das menschliche Elend auf allen Seiten erlebt hatten und auch nicht mehr wussten, wer welche Schuld auf sich geladen hatte. Warum ich das erzähle?
Aus dem einfachen Grund, dass für eine politische Einschätzung der Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten und ihren Bürgern viele offene Wunden immer wieder aufs Neue aufbrechen. Und dies trotz der Tatsache, dass es einer russisch-österreichischen Historikerkommission gelungen war, ein gemeinsames Geschichtsbuch 2018 herauszugeben. Ein solches fehlt bis heute für Deutschland und Russland; übrigens haben wir es auch noch nicht geschafft, eine gemischte Historikerkommission für die Aufarbeitung der Geschichte zwischen Slowenien und Österreich zu Ende zu bringen. Dass Putin über einen höheren Vertrauensindex als so mancher US-Präsident verfügt, ist kein österreichisches Phänomen, sondern gilt in weltweiten Umfragen. Weite Teile der österreichischen Bevölkerung sehen die russische Regierung und die politische Situation in Russland positiver, als dies die veröffentlichte Meinung vermittelt.
Doch Erinnerungen an die dunklen Kapitel der Okkupationszeit und der Nachwehen des Kalten Krieges brechen immer wieder auf. Die „soft power“ von Hollywood und Blue Jeans haben die Nachkriegsgenerationen in Österreich stärker geprägt als die historische Tatsache, dass die sowjetische Armee ihren wesentlichen Anteil an der militärischen Bekämpfung des Nationalsozialismus hatte. Befreiung oder Besatzung – ist nur eine von heftig umstrittenen Fragen der Geschichtsschreibung zum Verhältnis Österreich und Russland.
Als ich 1988 erstmals Damaskus besuchte, halfen mir kurioserweise folgende Sätze aus dem arabischen Lehrbuch, das aus der DDR stammte und auch in Wien verwendet wurde: „Die progressiven sozialistischen Kräfte werden die reaktionären imperialistischen Kräfte besiegen“. Solche ideologischen Floskeln beherrschte ich fließend, bevor ich auf Arabisch etwas zum Essen bestellen konnte. Begrüßt als „Schwester aus einem sozialistischen Bruderstaat“ nützte mir dieses ideologische Vokabular aus den Zeiten des Kalten Krieges im Nahen Osten. Damit hatte sich aber meine Berührung mit dem als „Ostblock“ bezeichneten Raum auch schon erschöpft. Russland war ein Land, von dem ich so gut wie nichts wusste, da kannte ich mich schon besser unter den libanesischen Feudalfamilien und ihren Milizen aus. Die Sowjetunion war der übermächtige Nachbar, der damals vielen Landsleuten mehr einen Schauer über den Rücken jagte, als anziehend wirkte. Wie schwer dieses Erbe des zweigeteilten Kontinents nachwirkt, ist meines Erachtens weiter westlich in Europa nicht immer nachvollziehbar. Ein bisschen kommunistisch zu sein, galt nicht nur in Paris stets als chic. Mit den antirussischen Ressentiments in mitteleuropäischen Gesellschaften können Franzosen bis heute wenig anfangen. Entsprechend entspannter gehen französische Regierungsmitglieder mit dem Thema Russland um, als dies weiter östlich der Fall ist.
Der französische Präsident Charles de Gaulle soll konsequent von „La Russie“ anstelle von „L’URSS“ gesprochen haben. Für den großen Europäer war das französische Akronym für UdSSR nicht geeignet, um das Land historisch und kulturell in Europa zu verankern. Ihm schwebte angesichts seiner tiefsitzenden Skepsis zur transatlantischen Allianz eine trilaterale Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Deutschland und Russland vor. Diese Idee hat in der gaullistischen Außenpolitik immer wieder Niederschlag gefunden, am intensivsten vielleicht in der gemeinsamen Ablehnung der Irak-Invasion im März 2003 durch Putin und seine Amtskollegen Jacques Chirac sowie Gerhard Schröder. Russland war als internationaler Akteur nach dem Chaos der 1990er Jahre auf die Weltbühne zurückgekehrt. Österreich wurde zunehmend zum Zweitwohnsitz sehr reicher Russen, später würde der russische Mittelstand Österreich bereisen bzw. für berufliche Kontakte nützen. Hoteliers, Immobilienmakler, Banken und Privatuniversitäten in Wien waren Nutznießer.
Der Sicht auf die Sowjetunion als mögliche militärische Bedrohung folgte nunmehr der Blick auf Geschäfte, die sich mit der wirtschaftlichen Stabilisierung eröffneten. Profiteure, Leichtgewichte von zweifelhaftem Talent und Profis rivalisierten um russische Investoren und Investitionsmöglichkeiten in Russland. So manche Wiener Kanzlei verdiente sich auf fragwürdige Weise eine goldene Nase mit einem einzigen reichen russischen Klienten. Viele Oligarchen machten Wien zwar nicht in dem Umfang zu ihrem Revier, wie London oder Tel Aviv, aber die Verbindungen verdichteten sich zunehmend. Die österreichische Reisebranche profitierte ihrerseits von russischen Gästen aus allen gesellschaftlichen Schichten, die einst schwache Saison im Jänner wurde fortan für russische Skifahrer reserviert. Der Rubel rollte in den Tiroler Bergen. Teure Geschäftsviertel umwarben das „Russengeld“, über das sich Österreicher gerne mokierten, wenn sie von ihren „Neureichen“ sprachen. Sie nahmen es aber mit gieriger Freude und zitterten dann um das leicht verdiente Geld, als Finanzkrise und die Probleme des Jahres 2014 manches durcheinanderbrachten. Nach Russland zu reisen, bleibt für viele Österreicher bislang eher ein Geheimtipp. Die geplanten elektronischen Visa werden das Reisen und Entdecken russischer Destinationen erleichtern.
Wir sind einander ein wenig auf menschlicher und jedenfalls auf geschäftlicher Ebene nähergekommen. Die Tatsache, dass österreichische Konzerne, wie v.a. einige Banken, das Land während der Rubelkrise im Sommer 1998 nicht verließen, sondern allen düsteren Aussichten zum Trotz blieben, sollte auf lange Zeit hinaus „den Österreichern“ einen gewissen Bonus verleihen. Anders verhielt sich beim sogenannten Nabucco-Erdgasprojekt des teilstaatlichen Energiekonzerns OMV. Ab 2002 suchte man hier nach einer Option für Erdgasimporte jenseits von Russland und den seit 1968 bestehenden Lieferverträgen. Immerhin hatte ein österreichisches Staatsunternehmen inmitten des gescheiterten Prager Frühlings mit der Sowjetunion einen langfristigen Liefervertrag abgeschlossen, den die russische Seite stets eingehalten hat.
Nabucco blieb ein Projekt, vor allem eines des Marketing, denn zur Einspeisung von Erdgas aus dem Iran oder Turkmenistan kam es nie. Vielmehr scheiterten die entsandten Manager an geopolitischen Gegebenheiten, die sie völlig falsch eingeschätzt hatten. Diese Ignoranz der Verhältnisse resultiert meiner Beobachtung nach aus einer zweifelhaften Rekrutierungspolitik in einigen österreichischen Konzernen, wo Parteipolitik und Intransparenz dominieren. Die Mitarbeiterstäbe in vielen russischen Unternehmen haben sich hingegen professionalisiert, u.a. dank exzellentem Bildungswesen. Die OMV wandte sich in der Folge wieder verstärkt dem russischen Partner zu, was in der Beteiligung an den zusätzlichen Strängen der Nord Stream -Pipeline, dem sogenannten NS2-Projekt, mündete. Bei aller Intensität im russisch-österreichischen „Business“, sollte einer Phase entspannter bilateraler Beziehungen immer wieder ein Kapitel der Spannungen folgen. Geschichte, Emotionen, verschiedene Interessensgruppen und offenbar auch außenpolitische Denkschulen mischen mit.
Mir erschien es im Sinne unserer Neutralitätspolitik, die sich besonders seit Bruno Kreisky um die Ansiedlung internationaler Organisationen bemüht und ihre guten Dienste anbietet, logisch, sowohl zu Moskau als auch zu Washington eine aktive Diplomatie zu pflegen und nicht bloß „rezeptiv“ abwarten, was die anderen tun, um dann sich irgendwo im Schatten selbiger zögerlich zu positionieren. Für die strategische Partnerschaft mit den USA hatte ich im Februar 2019 mit dem „Salzburg-Dialog“ die ersten Grundlagen erarbeitet. Eine neue Dynamik hatten wir jedenfalls im Auge, um die Zusammenarbeit so zu gestalten, dass möglichst viele Bereiche unserer Gesellschaften daran Anteil haben und die Kooperation auch mitgestalten. Damit sollte auch so mancher Knoten, der in den besten bilateralen Beziehungen auftauchen kann, immer leicht zu lösen sein. Aber ich darf hier meine erste Konklusion festhalten:
Als Präsident Wladimir Putin im Juni 2018 seinen Amtskollegen Alexander Van der Bellen mit großer Ministerdelegation in Wien besuchte, war die Stimmung im Großen und Ganzen exzellent. Die Dossiers Ukraine, Sanktionen und die Affäre Skripal warfen zwar ihre Schatten über vieles, aber im bilateralen Verhältnis dominierte ein professioneller unaufgeregter Umgang.
Es war beinahe so etwas wie Augenhöhe in einer Beziehung zwischen zwei höchst ungleichen Staaten entstanden. Da die Russische Föderation, die den Sanktionen infolge der Krimkrise erfolgreich trotzte und die Einnahmen aus Erdöl- und Erdgasexporten klug für die wirtschaftliche Konsolidierung genutzt hatte; hier Österreich im EU-Vorsitzmodus mit einer neuen Mitte-Rechts-Regierung, die international aufmerksam beobachtet wurde.
Neben den politischen bilateralen Themen ging es im Besuchsprogramm vor allem um 50 Jahre Erdgaslieferung durch Gazprom, die Van der Bellen bei allem ökologischen Engagement als Ökonom gegenüber der Option Flüssiggas aus Nordamerika klar befürwortete. Den Abschluss des dichten Programms bildete die Eröffnung einer Ausstellung der beiden Herrscherinnen Katharina II. und Maria Theresia im Kunsthistorischen Museum. Alles schien auf Schiene, um auch in Sanktionszeiten die bilaterale Zusammenarbeit zu vertiefen, darüber herrschte Konsens über die Parteigrenzen hinweg. Im Jahr darauf begleitete ich den Bundespräsidenten wiederum nach Russland zu Präsident Putin, wo wir in Sotschi am Schwarzen Meer die Vereinbarung für den Sotschi-Dialog feierlich starteten.
Ein Jahr später ist bedauerlicherweise wieder ein eher frostiges Klima zwischen Wien und Moskau angebrochen. Bereits zuvor erwähnte ich die Knackpunkte, die für tiefe wechselseitige Verstimmungen sorgen. „Megaphon Diplomatie“ ist das Stichwort auf russischer Seite gegenüber Wien, wo wiederum mittels Twitteria die Vorwürfe der Vergiftung von Nawalny und der politischen Verantwortung durch die russische Regierung sowie der Ruf nach weiteren Sanktionen besonders intensiv kommuniziert wurden. Besuchsdiplomatie ist in Zeiten der Pandemie nur in sehr reduziertem Umfang zulässig, doch gäbe es angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen infolge der Epidemie Möglichkeiten für punktuelle Zusammenarbeit. Die Medizin ist ebenso gefordert wie die digitale Forschung. Die Zeichen stehen aber auf Konfrontation, womit wir auf absehbare Zeit eher in eine Phase der Entfremdung zu steuern. Gerade nun könnten Wissenschaft und Kultur das Vakuum füllen. Dafür bedarf es Weitsicht und Reife, doch es dominiert nicht nur in Österreich eine gewisse Teenager-Mentalität, die Schmollen und Funkstille gegenüber einem rationalen Umgang bevorzugt.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, sondern reimt sich, wie es ein Zitat formuliert, das dem US-Schriftsteller Mark Twain zugeordnet wird. In diesem Sinne reimt sich auch die Rückkehr des Misstrauens. Im Verhältnis zwischen dem kaiserlichen Hof in Wien und jenem der Zaren in St. Petersburg schwangen immer wieder aufs Neue Argwohn und auf russischer Seite die Enttäuschung über österreichische politische Volten mit. Ein Streifzug durch die Jahrhunderte, vor allem der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, zeigt eine lange Liste von vertanen Chancen. Der Krimkrieg war nur ein besonders komplizierter Anlassfall. Auf dem Balkan standen die Heere einander entlang der alten konfessionellen Grenzen zwischen Katholiken und Orthodoxen gegenüber.
Bislang unbekannte politische Essays aus dem Nachlass von Stefan Zweig, die unter dem Titel „Vor dem Sturm – Europa zwischen 1900 und 1914“ ediert wurden, zeigen einen ganz und gar nicht europäischen Zweig, wie ich ihn mir bislang erlesen hatte. Die neu publizierten Aufsätze spiegeln viel mehr einen sehr germanophilen jungen Schriftsteller, der die Berliner Großmacht-Ambitionen gegen das Britische Empire konsequent unterstützt. Besonders interessant sind die Passagen zu Russland, denn Zweigs tiefsitzende Verachtung für alles Russische, ob kulturell oder politisch, offenbart sich hier. Der Bildungsbürger Zweig vertrat eine damals weit verbreitete Sicht der Wiener, ob jüdisch großbürgerlich oder deutschnational kleinbürgerlich, voller Vorurteile über Russland. Wien und St. Petersburg waren auf Augenhöhe, was sich nach dem Krieg schlagartig ändern würde und damit verkomplizierte. Da und dort wurde eine Geste auf russischer Seite gesetzt, doch von den Österreichern übersehen oder bewusst nicht beantwortet.
Folgende Begebenheit hat zwar nicht Weltgeschichte geschrieben, aber in den kleinen Dingen spiegelt sich doch auch etwas Großes wider. Als die Nachricht vom Tode des Kronprinzen Rudolf im Jänner 1889 St. Petersburg erreichte, fand gerade der Hofball statt. Auf Wunsch des Zaren wurde Trauerflor angelegt, um des toten Habsburgers zu gedenken. Eine solche Geste zeigt eine gewisse Feinheit in guten wie in schlechten Tagen, wie ich sie auf russischer Seite immer wieder auch in persönlicher Anschauung erleben durfte. Präsident Putin kam zur Trauerfeier für den im Juli 2004 verstorbenen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil. Dies sind die Gesten, die den politischen Alltag verändern. Sie machen den gewissen Unterschied aus. Auch ich setzte Gesten gegenüber meinen russischen Gesprächspartnern und stehe zu diesen, wenngleich ich hierfür bis heute heftig attackiert werde. Ich bedaure als ehemalige Außenministerin vielmehr, wie viele Chancen ungenutzt blieben, weil es in den europäischen diplomatischen Apparaten an Ideen und Menschen mit Mut mangelt. Mit folgender Schlussfolgerung möchte ich diesen Beitrag abschließen.
Als Präsident Putin im Herbst 2001 im deutschen Bundestag eine vielbeachtete Rede in deutscher Sprache hielt, machte er den Europäern und dem Westen insgesamt den Vorschlag zur Zusammenarbeit, ein Thema war die Bekämpfung des international organisierten Terrorismus. Seine Ideen wurden damals nicht aufgegriffen. Ich verwies in Interviews konsequent auf die Notwendigkeit, dass die Russische Föderation ein unabdingbarer Partner für unsere Anliegen ist, ob im Nahen Osten, in Fragen der Energieversorgung und der Wissenschaft, um nur einige Bereiche zu nennen
Als der britische Außenminister Jeremy Hunt mich im August 2018 in Wien besuchte, bat er mich um einen Satz zur allgemeinen geopolitischen Einschätzung. Meine spontane Antwort lautete: „Wir sollten unsere Zeit nicht damit vergeuden, Russland zu antagonisieren. Das eigentliche Problem ist China.“ Hunt reagierte mit folgenden Worten: „Interessant, genau dasselbe hören wir aus Washington.“ Es ist mir daher völlig unverständlich, wie sich der Ton im wechselseitigen Umgang miteinander im Sommer 2020 dramatisch verschärft hat, auch wenn mir die Profiteure dieser neuen Eiszeit nicht unbekannt sind.
Die EU wird in absehbarer Zeit kaum zu einem gemeinsamen Neuanfang gegenüber Russland finden, waren doch bereits kleine Gesten, wie ich sie mit einer Einladung von Außenminister Lawrow zu einem der Außenministerräte vorzuschlagen versuchte, aufgrund diverser Veto-Stimmen zum Scheitern verurteilt.
Es bleibt der bilaterale Weg. Doch hierfür ist eine Diplomatie mit mehr Rückgrat, Einfühlungsvermögen, solidem Geschichtswissen und Konsequenz erforderlich, um ernst genommen zu werden.