Autorius: Von Liudmila Kotlyarova Šaltinis: https://de.sputniknews.com/deu... 2020-05-30 13:26:00, skaitė 772, komentavo 0
Zuvor hatte Grenell die Bundesregierung mehrmals ultimativ aufgefordert, die deutsche Beteiligung an der atomaren Abschreckung der Nato nicht in Frage zu stellen. Dann war es auch noch die US-Botschafterin in Polen, Georgette Mosbacher, die von sich gab: Wolle man in Berlin die nuklearen Kapazitäten verringern und damit die Nato schwächen, könnte man die B61-Bomben (derzeit sind 20 davon im Fliegerhorst Büchel gelagert – Anm. d. Red.) doch nach Polen verlegen, das seinen gerechten Anteil zahle, die Risiken verstehe und an der Ostflanke der Nato liege.
Noch näher an Russland geht kaum. Wie in Berlin so auch in Warschau wagte sich so gut wie niemand, der Gesandten Washingtons etwas entgegenzustellen. Hat die Verlegung der US-Atomwaffen nach Polen eine Perspektive? Als SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich Anfang Mai die US-Atombomben in Deutschland erneut als Überbleibsel aus dem Kalten Krieg abgelehnt hatte, nahmen Außenminister Heiko Maas (SPD) sowie Regierungssprecher Steffen Seibert die deutsche nukleare Teilhabe sofort in Schutz.
„Die sogenannte nukleare Teilhabe ist an sich eine absurde Geschichte“, kommentiert der Außenpolitik-Experte Dr. Lutz Kleinwächter gegenüber Sputnik. Seinerzeit sammelte Kleinwächter Erfahrungen im Außenministerium der DDR und bei der UN in Genf, heute ist er Professor an der „bbw Hochschule der Wirtschaft“ in Berlin, Vorsitzender des politikwissenschaftlichen Vereins „WeltTrends e.V.“, der die gleichnamige Zeitschrift herausgibt, und Vorstandsmitglied des „WeltTrends-Instituts für Internationale Politik“. Die neuen Grenell-Mosbacher-Töne muss man aus seiner Sicht gerade vor dem Hintergrund der kritischen Diskussion in Deutschland sehen. In dieser Hinsicht glaubt er, dass die Überlegungen zu einer Verlegung der US-Atomwaffen nach Polen eine Provokation, ein Druckelement auf die neokonservativen und transatlantischen Kreise in Deutschland ist, sich erneut zur sogenannten Abschreckung der Nato zu bekennen – „obwohl keine Bedrohung in dem Sinne existiert“.
Grenell und Mosbacher seien „Erfüllungsgehilfen von Trump“, sagt Kleinwächter weiter, „sehr stark zuspitzende, provokative Leute ohne diplomatische Erfahrung“, die in Mitteleuropa „nicht angebracht, nicht brauchbar und außerhalb der Zeit“ seien. Berlin und Warschau sollten sich hier nicht irritieren lassen und eigene Positionen erarbeiten. „Wenn man es ernsthaft betrachtet, läge bei einer tatsächlichen Stationierung der Nuklearwaffen in Polen ein Bruch des Vertrages von 1997 zwischen Russland und Nato vor und wäre noch dazu sicherheits- und militärpolitisch vollkommen sinnlos.“ Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow erinnerte kürzlich daran.
Zahlreiche Meinungsstudien dokumentieren, dass die absolute Mehrheit der Deutschen sich generell für den Abzug der US-Bomben aus Deutschland ausspricht – laut einer „Handelsblatt“-Umfrage waren es 2019 86 Prozent der Befragten. Auch in der deutschen Politik würden sich die Kräfteverhältnisse hin zu einer Zweispaltung verändern, argumentiert Kleinwächter. Es gebe eine starke Gruppierung neokonservativer Transatlantiker einschließlich des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrem neuerlichen Atombomber-Vorstoß und auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (alle CDU) – und auf der anderen Seite starke Gegenkräfte sowohl in der SPD-Führung, in der Linken aber auch im rechtskonservativen Spektrum, die „die Sache sehr realistisch, nüchtern und kritisch sehen“.
Kleinwächter zeigt sich überzeugt: „So wie diese Transatlantiker zurzeit auftreten, so ist das Kräfteverhältnis in Deutschland nicht. Die Mehrheit der Bevölkerung nimmt die neue Situation der multipolaren Kräftekonstellationen wahr und ist vernünftiger als die Regierung, die die Mehrheitsmeinung in der Kernwaffenproblematik negiert.“
Immer wieder wird die deutsche nukleare Teilhabe an der Nato mit dem sogenannten Mitbestimmungsrecht über deren potenziellen Einsatz verbunden. Glaubt die Bundesregierung daran? Der Sputnik-Gesprächspartner zeigt sich da skeptisch.
„Ein Mitbestimmungsrecht einer nicht nuklearen Macht über Atombomben gibt es in der Realität nicht. Jede nukleare Macht - ob USA, Russland, China oder Frankreich - bestimmt selbst über ihre Atomwaffen. Die Konsultationsmechanismen und die Abstimmungen sind sekundär. Letztlich hat der amerikanische Präsident auch über die Atombomben in Büchel die Entscheidungsmacht, und er wird im 'Ernstfall' Deutschland nicht fragen“, meint Kleinwächter.
Das sei eine vollkommene Illusion, die der deutschen Bevölkerung von sehr stark US-orientierten Politikern vorgespielt werde. „Wenn ich mir die ganze Diskussion anschaue, bin ich immer wieder erstaunt, wer sich hier von den Politikern so lax äußert, kaum Verbindung zu diesem Thema und letztendlich keine Sachkenntnis hat.“ Selbst die CDU und FDP hätten in der Vergangenheit durchaus dafür plädiert, diese Kernwaffen aus Deutschland abzuziehen. Man wackele über die Jahre hin und her, habe Positionen, die sich abhängig vom US-Druck ändern.
Unabhängig davon, welche Regierung Deutschland 2021 bekommt, glaubt der Experte, dass der Verbleib der Kernwaffen den deutschen Sicherheitsinteressen sehr schadet. Das sehen zunehmend Kräfte auch bei den Grünen – wie etwa deren Sprecher für Sicherheitspolitik, Tobias Lindner, der die Waffen in Büchel für einen „teuren, gefährlichen und antiquierten symbolischen Beitrag“ hält, um innerhalb der Nato mitreden zu können. Unter dem Gesichtspunkt wäre ein deutscher Verzicht auf die Kernwaffen, bei denen sich Deutschland „selbst zum Vasall der USA macht“, auch laut Kleinwächter eine gute Zukunftsoption. Außerdem: Es steht das Angebot des französischen Staatschefs Emmanuel Macron vom Februar dieses Jahres, in einen europäischen Dialog über einen entsprechenden Nuklearschirm zu gehen, der durch Frankreich garantiert werden könnte. „Dafür braucht man die USA nicht“, sagt Kleinwächter abschließend. Frankreich – das weder in Russland noch in China Gegner der Nato sieht – sei für Deutschland eine näher liegende Option, die stabiler, sicherer und verlässlicher ist als die USA.