Bruno Mahlow: Verantwortung Deutschlands und Sowjetunion für Krieg im Vergleich – schreckliche Lüge

Autorius: SputnikNews Šaltinis: https://de.sputniknews.com/int... 2020-05-09 13:27:00, skaitė 1097, komentavo 0

Bruno Mahlow: Verantwortung Deutschlands und Sowjetunion für Krieg im Vergleich – schreckliche Lüge

Am 8. Mai wird der 75. Jahrestag der Befreiung Europas vom Nazismus begangen. Wie heute das Gedenken bewahrt wird und warum der Sieg nicht politisiert werden darf – darüber sprach der ehemalige Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen des ZK des SED in der DDR, Mitglied des Ältestenrates der Partei Die Linke, Bruno Mahlow, mit RIA Novosti.

- Gibt es Ihrer Einschätzung nach die Gefahr einer Revision der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Deutschland?

- Als in Deutschland Informationen über die Quarantäne wegen Covid-19 auftauchten, las ich in den deutschen Medien, dass der Staatsakt anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung nicht zustande kommt. Ich dachte mir sofort – wo gehobelt wird, fallen Späne… Ich war empört. Ehrlich gesagt, war ich sogar überrascht, als ich danach erfuhr, dass allerdings eine geschlossene und verkürzte Zeremonie unter Beteiligung Frank-Walter Steinmeiers und Angela Merkels in Berlin stattfindet.

- Ich denke, dass in Deutschland die Geschichte des Zweiten Weltkriegs bereits revidiert wird. So berichteten Medien vor einiger Zeit, dass die Ukrainer Berlin im Mai 1945 befreiten, weil die deutsche Hauptstadt von der 1. Ukrainischen Front eingenommen wurde. Eine solche Desinformation ist einfach unannehmbar. Darüber, welche Nationalitäten in der Roten Armee kämpften, wurde ziemlich viel geschrieben. Warum halten die Medien in Deutschland es für möglich, ihre Phantastereien dazu zu veröffentlichen?

- Ein weiteres Beispiel einer schrecklichen Lüge – der Vergleich der Verantwortung Hitlers und Stalins, Deutschlands und der Sowjetunion für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. 1933 wurde in der Sowjetunion eine Verordnung über den Kampf für kollektive Sicherheit verabschiedet. Moskau trat dem Völkerbund bei und unternahm Versuche, ein internationales Bündnis gegen Nazi-Deutschland zu schmieden. Doch darüber wird heute nicht geschrieben, dafür aber dankt man den ehemaligen Verbündeten aus den USA, Großbritannien und Frankreich für die Befreiung Europas. Im August 1939 ließen London, Paris und Washington die Sowjetunion alleine, die Dinge mit Hitler zu klären. England wollte direkt einen Zusammenstoß zwischen dem faschistischen Deutschland und der Sowjetunion. Nicht zufällig sagte Hitler, dass alles, was er macht, er gegen Russland macht. Und wenn die westlichen Partner ihn nicht verstehen, wird er sie zunächst in die Knie zwingen und dann gegen Russland vorgehen. Die westlichen Alliierten traten der Anti-Hitler-Koalition erst bei, als das ihre eigenen Interessen und Sicherheit traf. Die zweite Front wurde überhaupt erst 1944 eröffnet.

- Warum ist die Frage nach einem behutsamen Umgang mit den Fakten der Kriegsgeschichte heute so wichtig?

- Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen, wohin meine Eltern aus Deutschland 1933 ausgewandert waren, weil sie Kommunisten waren. Ich betrachte mit großer Abneigung alles, was die Verzerrung der Geschichte des größten und schwersten Sieges des sowjetischen Volkes im Kampf für die Verhinderung des Endes der menschlichen Zivilisation betrifft. Es handelt sich nicht einfach um einen Konflikt zwischen den Staaten. In Hitlers programmatischem Buch „Mein Kampf“ ist das Programm zur Vernichtung der Völker, des Genozids dargelegt. Dieses Programm betraf nicht nur die Juden, sondern vor allem die Völker der Sowjetunion, die ausgelöscht und versklavt werden sollten.

Die so genannte Durcharbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in Westdeutschland führte nicht zu einer massiven Entlarvung der ehemaligen Nazi-Verbrecher in der BRD. Damit befasste man sich aktiv in der DDR. Dort gab es eine starke Friedensbewegung, dort verstand man die Bedeutung von Freundschaft mit der Sowjetunion. In der DDR wurden sowjetische Filme über den Krieg, den Naziterror gezeigt. Viele schämten sich dafür, dass sie in der Wehrmacht waren und gegen die Sowjetunion kämpften.

Die Mehrheit der deutschen Kriegsgefangenen, die Chruschtschow nach dem Treffen mit Adenauer aus den Lagern freiließ, reiste nach Westdeutschland, wo sie übrigens als Märtyrer empfangen wurden. Die junge Generation der Deutschen sagt heute – wir haben damit überhaupt nichts zu tun, man soll mit diesem Thema aufhören, das war schon lange her. Ich sage darauf immer – dafür, was in der Vergangenheit war, sind sie nicht verantwortlich, doch sie sind verantwortlich für das Kennen der Geschichte, unter anderem dafür, dass sich so etwas nicht mehr wiederholt.

Ich begann über Filme zu sprechen – so werden in Deutschland zum Beispiel in öffentlich-rechtlichen TV-Sendern regelmäßig Filme über das Leben Hitlers gezeigt. Über Hitler und seine Hunde, Hitler und seine Frauen. Ist das wirklich das Wichtigste, was man über Hitler erzählen kann? Oder wird das gemacht, um eine solche Diskussion zu einer Normalität zu machen? Es ist nicht erstaunlich, dass danach ein AfD-Chef sich erlaubt zu sagen, dass die Geschichte des Dritten Reichs bezüglich der Geschichte Deutschlands nach ihrem Ausmaß ein „Vogelschiss“ sei. Und darüber wird in den Zeitungen geschrieben.

- In Deutschland wird den ehemaligen DDR-Bürgern die Unterstützung der Rechtsextremisten vorgeworfen, darunter die AfD, die bei den letzten Landtagswahlen im Osten des Landes sehr gut abschnitt. Wie würden Sie das erklären?

- Ich denke nicht, dass dies mit besonderen nationalistischen Stimmungen im Osten Deutschlands verbunden ist. Solche Stimmungen gibt es und gab es dort nicht. Das ist eine Folge der Enttäuschung von den Regierenden. Diese Menschen verloren zunächst den Glauben an die Regierungen der DDR und der Sowjetunion. Nach dem Beschluss über die Wiedervereinigung in Versammlungen der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, der fast sechs Mio. Menschen angehörten und ein Mitglied des Zentralvorstandes dieser ich war, standen Menschen auf und sagten:

„Ich gehe weg, weil das alles nicht mehr zu meinem Leben gehört“.

Danach begannen die Menschen zu begreifen. Nach der sehr schweren Wirtschaftskrise in Ostdeutschland in den 1990er-Jahren, der Massenarbeitslosigkeit gingen vielen die Augen auf. Doch es gab einfach keine politischen Kräfte, die diesen Protest tragen könnten. Die Linken waren verblüfft, die Proregierungsparteien schwiegen, die Rechten nutzten das Vakuum und rückten vor, wobei die Migrationspolitik der Bundeskanzlerin Merkel kritisiert wurde.

Aber ich würde dazu aufrufen, diese Situation nicht zu unterschätzen. Es gibt zu viele Übereinstimmungen im historischen Kontext 2015 und 1933. Damals stimmten in der Weimarer Republik mehr als 37 Prozent der Wähler für die NSDAP. Niemand dachte damals an einen Krieg, daran, was in einigen Jahren passiert. In Deutschland ist jetzt eine Tendenz zum Wachstum rechter Stimmungen zu erkennen. Die harten Isolationsmaßnahmen, die von der Bundesregierung angesichts Covid-19 getroffen wurden, werden meines Erachtens zur Beschränkung der Demokratie und sozialen Errungenschaften genutzt. 2016 erklärte das Robert-Koch-Institut, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht imstande ist, Massenepidemien zu widerstehen. Doch danach wurden die Ausgaben für das Gesundheitswesen wieder gekürzt, es begann die Privatisierung nach dem Vorbild des US-Gesundheitswesens. Und schauen Sie mal – wie sieht es heute mit der Pandemie in den USA aus, die nach der Zahl der Infizierten allen voran sind? Vielleicht wurde die Krise des kapitalistischen Systems nach unserer Niederlage im Kalten Krieg etwas auf die Seite geschoben, doch sie war unvermeidlich.

- Der ukrainische Botschafter in Berlin weigerte sich, an der Veranstaltung anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung Berlins teilzunehmen. Er könne nicht gemeinsam mit dem russischen Botschafter in Deutschland bei der Zeremonie präsent sein, argumentierte er. Ist das normal – den Sieg zu teilen? Wie verhält man sich in Deutschland zu solchen Demarchen?

- Ich denke, dass das Feiern des Sieges nicht von einer politischen Konjunktur abhängen kann. Die Krise in der Ukraine, die 2013 begann, hat nichts zu tun mit der großen Heldentat der sowjetischen Kämpfer, die Berlin, Deutschland, Europa und die ganze Welt vom Faschismus befreiten.

Natürlich löst die Teilnahme Deutschlands an den aktuellen ukrainischen Ereignissen, die Präsenz des jetzigen Bundespräsidenten und damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier in Kiew im Jahre 2014 Fragen aus. Hitler sagte bei der Entwicklung des Falls Barbarossa, dass Deutschland die Ukraine brauche, damit die Deutschen nicht verhungern, wie während des Ersten Weltkriegs. Man hat den Eindruck, dass diese Vorstellungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg immer noch Gewicht in den Augen der westdeutschen politischen Elite haben. Das Fehlen einer gleichberechtigten politischen Diskussion mit der Opposition zu solchen wichtigen Fragen, wie die Ukraine-Krise, führen zur Entstehung von illusorischen Zielen und Herangehensweisen in der Außenpolitik Deutschlands. 

Vor diesem Hintergrund wird das Motto “America First” sowie andere Mottos der USA als überhohes Geschenk der Demokratie präsentiert, obwohl das natürlich ein typischer Nationalismus, die Widerspiegelung des Strebens nach der globalen Herrschaft ist. In Deutschland muss man jetzt angesichts der steigenden Schändungsakte gegen sowjetische Kriegsgräber überwachen. Doch ich möchte unser Gespräch positiv abschließen. Wir haben mit den Kollegen vom Ältestenrat der Linkspartei verabredet, uns am 8. Mai im Treptower Park zu treffen, natürlich in einem engen Kreis wegen des Coronavirus, und Blumen niederzulegen und der Gefallenen zu gedenken. Ich bringe gewöhnlich da immer Blumen am 8. und 9. Mai hin. Und ich bin mir sicher, dass die Vertreter der russischen Diaspora in Deutschland, Einwohner Berlins, natürlich ohne gegen die Auflagen zu verstoßen, am Tag des Sieges in den Treptower Park kommen und Blumen am sowjetischen Ehrenmal niederlegen. Das ist unsere gemeinsame Pflicht, das wird nicht vergessen.