Autorius: Tilo Gräser Šaltinis: https://de.sputniknews.com/exk... 2020-03-12 11:23:00, skaitė 915, komentavo 0
„Die Nato-Osterweiterung ist die Mutter aller heutigen Verwerfungen und Konflikte“. Das stellte Alexander Rahr, Politologe, Publizist und einer der führenden deutschen Russlandexperten, am Dienstag in Berlin fest. Das deutsch-russische Verhältnis beleuchtete er während einer Veranstaltung des „Welttrends-Institutes für Internationale Politik“. Beide Seiten hätten sich in dem gegenwärtigen Verhältnis festgebissen. Das führe zu gefährlichen Konflikten, deren Konsequenzen nicht bedacht würden.
Gegenüber Sputniknews kritisierte Rahr das westliche Verhalten gegenüber Moskau, zwar den Dialog weiter anzubieten, das aber mit Schuldzuweisungen und Bedingungen zu verknüpfen. „Genau das ist das Problem, dass man weiterhin ziemlich überheblich daherkommt, als Europäer und als US-Amerikaner.“ Der Westen wolle weiter die Weltordnung bestimmen, was die Russen und Chinesen aber nicht mehr mitmachen würden.
Der Russland-Experte zog in seinem Vortrag vor einem Publikum aus Ex-Diplomaten und Politikwissenschaftlern eine Linie vom Ende des Kalten Krieges nach 1989 bis heute. Es sei „immer gut, sich an die Zeit zu erinnern“, als die Sowjetunion unterging und Russland an die Tür von Nato und EU klopfte. Doch für das neue Russland sei kein Platz in dem neuen Europa mit dem vergrößerten Deutschland als Führungsmacht gefunden worden.
„Vielleicht hielten wir das damals nicht für so wichtig“, blickte Rahr zurück und stellte fest: „Aber heute rächt sich das. Für die Nato und die EU ist Russland einfach zu groß, zu fremd und für manche immer noch zu bedrohlich.“ Damals sei eine wichtige Chance verpasst worden, ein großes Europa mit allen europäischen Nationen zu gründen.
Der Politologe und Historiker erinnerte auch an die Zeit des Kalten Krieges: Mit der Ostpolitik der SPD-geführten Bundesregierung sei versucht worden, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Statt Bedrohung sei es um Wandel durch Handel gegangen, was zum Beispiel die damalige deutsche-russische Energie-Allianz ermöglicht habe. „Pipelines rissen die ersten Löcher in den Eisernen Vorhang.“
Rahr stellte fest: „Heute liegt diese Energie-Allianz fast in Trümmern, wie auch die gesamte Ostpolitik.“ Zu den Ursachen zählt für ihn, dass der Westen die Angebote von Russlands Präsident Wladimir Putin, unter anderem in seiner Rede 2001 vor dem Bundestag, ignorierte. Dem Beifall im Bundestag sei statt des Ergreifens der ausgestreckten Hand die westliche Kritik an Russland wegen des vermeintlichen Abdriftens von der Demokratie gefolgt.
„Russland hoffte, dass Deutschland weiterhin eine Art Anwaltsrolle für Russland im Westen spielen könnte. Aus Moskau kamen neue Friedensvorschläge, zum Beispiel zum Aufbau eines gemeinsamen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok. Im Westen wurden die russischen Vorschläge ignoriert und erklärt, Russland sei nicht mehr vorrangig zu behandeln. Es habe den Kalten Krieg verloren und müsste sich seinen Platz in der europäischen Familie erst noch durch liberale Reformen und Demokratie verdienen.“
Moskau habe daraufhin enttäuscht abgewinkt, „es wollte vor dem Westen keine Rechenschaft mehr ablegen“, betonte Rahr. Die Russen hätten sich nicht mehr im „ständigen Lehrer-Schüler-Verhältnis“ sehen wollen. Deshalb habe sich Russland auf diese Suche nach einer neuen Identität mit Hilfe alter, vorrevolutionärer Traditionen begeben.
Der Politologe verwies angesichts westlicher Vorwürfe, Russland wolle Einflusssphären in seinem Umfeld, dass die Nato und die EU sich nach Ostmitteleuropa erweitert haben – „bis an die russischen Grenzen, bis auf Teile der einstigen Sowjetunion“. Die Bundesrepublik habe sich als Führungsmacht in der Europäischen Union, neben Frankreich, entschieden, ihre Russlandpolitik an den neuen ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedern auszurichten. „Die Aussöhnung mit Russland wurde in Deutschland als zweitrangiges, gar drittrangiges Ziel behandelt, vor allem in den Medien.“
Für die neuen östlichen EU-Staaten sei das deutsche Ansinnen, europäische Sicherheit mit Russland zu gestalten, nur „idiotische Utopie“ gewesen, schätzte Rahr ein. Hinzu sei das Bestreben der USA gekommen, die transatlantischen Verbindungen zu sichern. Statt dem Konzept eines gemeinsamen Europas von Lissabon bis Wladiwostok zu folgen habe der Westen ausschließlich auf die Nato und die EU gesetzt. „Eine OSZE, die im Kalten Krieg eine Vermittlungsrolle zwischen den gegnerischen Blöcken gespielt hatte, wurde nicht mehr benötigt.“
Russland sei jegliche Mitsprache beim Aufbau eines neuen Europas im 21. Jahrhundert verwehrt worden. Rahr erinnerte ebenso daran, dass der von den Kanzlern Helmut Kohl und Gerhard Schröder begonnene Kurs auf eine deutsch-russische Partnerschaft spätestens mit der Amtsübernahme durch Angela Merkel beendet wurde. „Deutschland beschwor unter der neuen Kanzlerin Merkel die transatlantische Schicksalsgemeinschaft als das Wichtigste.“
Die zweite große Rede Putins auf deutschem Boden, bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, habe einen Wendepunkt markiert, stellte der Experte fest. Darin habe der russische Präsident vor einem neuen Kalten Krieg gewarnt, wenn der Westen weiter nach Hegemonie streben würde. Merkel habe zwar 2008 „Augenmaß“ bewiesen und mit Paris verhindert, dass Georgien und die Ukraine in die Nato aufgenommen wurden. Trotzdem habe sich Deutschland immer weiter von Russland entfernt, so Rahr.
„Die fehlgeleitete westliche Politik der östlichen Ausdehnung endete 2013 in der Ukraine mit einem Desaster. Russland und die EU standen sich plötzlich in der Ukraine als Kriegsparteien gegenüber.“ Zwar habe Merkel die gefährliche Lage begriffen und mit Frankreich gemeinsam versucht, zwischen Russland und der Ukraine zu schlichten. Das sei aber bisher ohne Erfolg geblieben, weil sich Deutschland „eben nicht als Vermittler, als Schlichter sieht, sondern als Schutzpatron der Ukraine“.
Die Bundesregierung verkenne wie ihre westlichen Partner die Lage, wenn sie versuche, Moskau wegen des vermeintlichen Völkerrechtsbruches zu bestrafen. Rahr hob hervor: „Russland sieht sich vom Westen herausgefordert und wird auch einen Waffengang nicht scheuen, um seine strategischen Interessen im Nahen Osten und auf der Weltbühne weiter zu verteidigen. Das muss man auch klar anerkennen.“
Der Politikwissenschaftler ist überzeugt, dass Russland dem westlichen Sanktionsdruck auf Dauer widerstehen kann. Zu der Überzeugung in der bundesdeutschen Politikelite, Russland müsse abgeschreckt und eingedämmt werden, sagte Rahr: „Dazu wäre Anlass gegeben, wenn Russland Nato-Territorium bedrohen würde. Dem ist aber nicht so. Russland verteidigt – so wie die USA in den 1960er Jahren auf Kuba – seine sicherheitspolitischen Interessen in der unmittelbaren Nachbarschaft.“
Ein Verzicht des Westens auf eine weitere Nato-Osterweiterung sowie eine Neutralität für die Ukraine und die anderen Staaten in dem Umfeld – das wäre für den Experten der „goldene Weg aus dem Konflikt“. Um den Frieden in Europa zu erhalten müsse erkannt werden: „Der Westen darf Russland nicht mehr als ein Land behandeln, das die schlechtere Moral und die falsche Werte besitze.“ Die westliche Politik müsse sich von ihrer lehrerhaften Art gegenüber Moskau verabschieden.
Der Politologe bezeichnete als „falsche Illusion“, darauf zu hoffen, „dass Putin eines Tages vom russischen Volk gestürzt wird und Russland dann in die Zeiten Gorbatschows zurückkehrt“. Russland habe sich nicht mehr auf ein werteorientiertes Westeuropa orientiert, sondern auf die „neuen Kraftzentren in Asien“, mit denen es Bündnisse schließe. „Noch ein paar Jahre und das ist nicht mehr aufzuhalten.“
Rahr bedauerte in der Diskussion mit dem Publikum, dass es in der bundesdeutschen Politik außer bis auf Einige in der Linkspartei und Russlanddeutsche in der AfD kaum Kräfte gebe, die sich für ein besseres Verhältnis zu Russland einsetzen würden. Selbst in der SPD sei jemand wie der ehemalige Parteichef Matthias Platzeck, der eine neue Ostpolitik fordert, eine Ausnahme.
Für ihn ist eines der grundlegenden Probleme dabei, dass es in der Bundesrepublik keine Netzwerke oder Denkfabriken gebe, die Strategien für eine andere Politik entwickeln. Es fehle eine Gegenöffentlichkeit und dass mit russischen sowie chinesischen Instituten zusammengearbeitet werde.
„Unsere ganzen Eliten sind so verwurzelt mit US-amerikanischen Thinktanks, mit US-Organisationen.“ Das sei „kaum auflösbar“, weil es in den letzten 70 Jahren aufgebaut wurde. Die notwendige Abkopplung von den USA können nur in einem ganz langwierigen Prozess erfolgen, schätzte er ein.
Er verwies auf den Druck aus den USA in den letzten Jahren auf bundesdeutsche Unternehmen, nicht mehr mit Russland zusammenzuarbeiten. Die Drohungen – vorgetragen selbst durch die US-Botschafter – seien so weitgegangen, dass die Unternehmen vom US-Markt ausgeschlossen werden würden. „Die deutsche Wirtschaft hat sich gefügt“, stellte Rahr fest.
Auf eine Frage nach der Russlandfeindlichkeit in der bundesdeutschen Medienlandschaft meinte Rahr: „Das ist Gift, was da teilweise verbreitet wird.“ Er befürchtet, dass sich der Konflikt am kommenden 8. Mai, dem 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, deutlich zeigt. Dazu veröffentlicht er in Kürze das Buch „Der 8. Mai. Geschichte eines Tages“. Der Politologe setzt auf den Gegenwind in den sogenannten sozialen Medien zur Hetzte in den etablierten Medien.
Er bedauerte, dass trotz aller Umfragen, in denen sich eine Mehrheit der Bundesbürger für ein besseres Verhältnis zu Russland ausspreche, sich die meisten hierzulande nicht mehr für Russland interessieren. Das gelte insbesondere für die bundesdeutsche Politik, was er erlebt habe, als er dem Kanzleramt Putins Vorstellungen zu Syrien übermittelt habe.
Das sei ebenso ignoriert worden wie der Vorschlag aus Russland, gegenseitig auf Mittelstreckenraketen in Europa zu verzichten – „ein genialer Vorschlag“. Doch keiner unterstütze diesen, auch Bundesaußenminister Heiko Maas habe nur erklärt, das mit Washington beraten zu müssen.
Dennoch hofft er weitere auf Impulse aus den Unternehmen für bessere deutsch-russische Beziehungen. Aus seiner Sicht gehe es dabei auch nicht darum, politisch und wirtschaftlich zu alten besseren Zeiten zurückzukehren.
„Die Welt braucht immer was Neues – und es gibt etwas Neues“, sagte Rahr: „Das ist eine grüne Allianz durch die Zusammenarbeit in der Umweltpolitik, bei umweltschonenden Technologien.“
Es gehe dabei nicht um den Austausch von Technologie gegen Ressourcen, sondern um gemeinsame Entwicklungen. Das sei das Hauptthema auf vielen Konferenz in Russland und hierzulande, an denen er teilnehme. Der notwendige politische Wille sei auf russischer Seite vorhanden.