Autorius: MARTIN MÜLLER-MERTENS Šaltinis: https://www.compact-online.de/... 2020-02-18 12:03:00, skaitė 1102, komentavo 0
Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
Das Thüringen-Beben und seine Folgen bestimmen immer noch die politische Debatte in Deutschland. Im Interview mit COMPACT bezeichnet der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider die Vorgänge als „klar verfassungswidrig“ und warnt vor einem Sieg des ideologischen Moralismus über das politische Verfassungssystem. Schachtschneider referierte schon im Jahr 2015 bei der vom COMPACT-Magazin ausgerichteten Souveränitätskonferenz zu dem Thema „Feindstaat, US-Vasall, EU-Provinz – Anmerkungen zur völkerrechtlichen Situation der Bundesrepublik Deutschland mit besonderer Berücksichtigung des von der Kanzlerin initiierten Asylnotstandes“. Die DVD kann hier bestellt werden.
Angela Merkel hat die Wahl Thomas Kemmerichs zum Thüringischen Ministerpräsidenten als unverzeihlich bezeichnet: Diese Wahl müsse rückgängig gemacht werden. Darf die Kanzlerin das?
In keiner Weise. Diese Aussage verstößt gegen das Grundgesetz und auch gegen die Thüringer Verfassung – nämlich gegen das demokratische Prinzip, gegen das Bundesstaatsprinzip und auch gegen das Rechtsstaatsprinzip. Das Wichtigste ist sicherlich ersteres: Merkel hat sich das als Autokratin gezeigt, und das nicht ohne Wirkung.
Dabei sind die Abgeordneten des Thüringer Landtags unabhängig von Weisungen und Aufträgen und nur ihrem Gewissen verpflichtet. Jeder von Ihnen trägt Verantwortung dafür, dass das Land eine Regierung hat und dass ein Ministerpräsident gewählt wird – völlig unabhängig davon, wer wem seine Stimme gibt. Die Durchdringung Deutschlands durch die bundesweit organisierten Parteien ist ein großes Problem. Deren Organe nehmen einen unziemlichen Einfluss auf die Geschehnisse in den Ländern, die eigentlich die Sache der Landesverbände und der Landespolitiker ist.
Das führt immer wieder zu Schwierigkeiten, aber durchsetzen muss sich am Ende das Recht.
Nun hat Merkel Kemmerich natürlich nicht formal abgesetzt. Kann man die Ereignisse dennoch als eine Art Staatsstreich bezeichnen?
Die Möglichkeit, ihn formal abzusetzen, hat sie natürlich in keiner Weise, auch nicht im Aufsichtswege nach Artikel 83 GG – da könnte sie allenfalls eine Rüge erheben. Insofern hat sie ein solches Instrument nicht zur Verfügung, aber ihre Aussage hatte eine politische Wirkung. Es war meines Erachtens eine wütende Äußerung aus großer Entfernung, weil sie insbesondere jemand ist, der moralistische Ideologie über das Gesetz stellt.
Das ist ja unser ganzes Problem: Dass wir in einer Zeit leben, in der mal wieder der Moralismus maßgeblich ist. Es würde vollkommen genügen, wenn das Recht eingehalten würde. Aber das scheint vielen zu schwer zu fallen, weil sie eben die eine Partei, die auch für den Herrn Kemmerich gestimmt hat, ausgrenzen wollen – was natürlich gegen alle Prinzipien des GG verstößt: Die Partei ist legal, ihre Abgeordneten sind vom Volk gewählt, sie haben die gleichen Rechte wie die jeder anderen Partei auch. Das Oppositionsprinzip wird in der Verfassung von Thüringen sogar besonders hervorgehoben.
„Das Problem der CDU ist die strikte Gefolgschaft zu Merkel“
Ist es ganz abwegig, wenn ich mich an den Satz erinnere: Der Führer schützt das Recht?
Nein, überhaupt nicht. Das ist führerschaftlich, und die Parteien sind ja nach dem Prinzip „Führung und Gefolgschaft“ strukturiert. Das Problem der CDU ist diese strikte Gefolgschaft gegenüber dem Parteivorsitzenden, wenn er Kanzler ist – der Kanzler ist in Deutschland sehr sehr stark und nach dem Grundgesetz schwer zu ersetzen. Und das hat sich ausgewirkt als ein Führerprinzip.
Wenn die stärkste Partei so agiert, fühlt man sich leider daran erinnert, obwohl das Grundgesetz ja nun gerade damit brechen wollte: Deswegen der starke Föderalismus, deswegen das demokratische Prinzip, deswegen das Rechtsstaatsprinzip. Aber es fällt so unendlich schwer, das wirklich zu leben.
Nach der Wahl Kemmerichs gab es in Erfurt umgehend Demonstrationen. Linken-Chefin Katja Kipping hat sich dafür bedankt.
Dass die Gewaltandrohung auf der Straße nicht hinreichend unterbunden wird, so dass sich ein gewählter Ministerpräsident und seine Familie nicht sicher fühlen können, ist erschreckend. Ich bin der Meinung, dass der neue Ministerpräsident das hätte durchhalten sollen. Er hat das Recht, die Minister zu ernennen, dafür benötigt er nicht die Zustimmung des Landtages, und er hätte dann mit dieser Regierung seine Arbeit machen können, so gut es geht.
Es wäre natürlich schwer gewesen, Gesetze zu beschließen, aber er hätte es versuchen und sich nicht sofort zurückziehen sollen. Das ist meines Erachtens das eigentliche Unglück, dass er da nicht durchgehalten hat.
„Die Entmachtung der Wähler ist verfassungswidrig“
Wenn man von vornherein sagt: Bestimmte Stimmen können sich zwar im Parlament äußern, werden aber auf keinen Fall Teil der politischen Mehrheitsbildung sein: Ist das nicht im Grunde eine Aushebelung der Wahlen?
Das ist eine Entmachtung der Wähler, das ist klar verfassungswidrig! Eine solche politische Position ist durch nichts zu rechtfertigen. Wie gesagt, besiegt ideologischer Moralismus das politische Verfassungssystem. Da finde ich also kein vernünftiges Wort der Zustimmung, weil wir ja ein Bürgerstaat sein wollen, und gerade Thüringen betont besonders die Bürgerlichkeit des politischen Systems, die Abgeordneten sind Vertreter aller Bürger, heißt es in der Thüringer Verfassung, die Bürger bestimmen, wer im Landtag sitzt, und jeder Landtagsabgeordnete hat die gleichen Rechte – die Chancengleichheit der Parteien und Abgeordnete wird ja auch vom Bundesverfassungsbericht immer wieder betont. Das ist also eine politische Propaganda, die uns viel Schaden bringt.
Herr Dr. Schachtschneider, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview können Sie sich in voller Länge in unserem Digital+-Bereich als Video ansehen.