Auschwitz-Befreier: Würde Morawiecki die Note „Ungenügend“ in Geschichte geben

Autorius: SputnikNews Šaltinis: https://de.sputniknews.com/int... 2020-01-29 17:52:35, skaitė 655, komentavo 0

Auschwitz-Befreier: Würde Morawiecki die Note „Ungenügend“ in Geschichte geben

Auschwitz-Befreier: Würde Morawiecki die Note „Ungenügend“ in Geschichte geben

Paris: Proteste gegen Macrons Rentenreform gehen weiterBis Herbst 1944 hatten wir schon das ganze Territorium des Landes befreit. Bis dahin hatten wir mehr als einen Monat lang ununterbrochen gekämpft – das waren der Einsatz bei Lwow und Sandomir und zuvor noch erbitterte Kämpfe um Ternopol. Zwischen Ternopol und Lwow wurde ein großer deutscher Truppenverband eingekesselt, und einige Zeit brauchten wir, um ihn zu vernichten. Dann zogen wir in Richtung Lwow und weiter zur polnischen Grenze. Natürlich waren unsere Truppen in einem Zustand, in dem sie nicht noch weiter vorrücken konnten. Eine unendliche Offensive ist ja unmöglich. Die Truppen brauchten unbedingt neue Soldaten, neue Waffen, Munition usw.  Jeder vernünftige Mensch – ja jeder, der sich dafür interessiert, was Krieg bedeutet – weiß das. Aber dieser Herr (Mateusz Morawiecki) versteht das offenbar nicht.

Stalin wollte nie der Befreiung von Auschwitz ausweichen

- Kann man Ihres Erachtens behaupten, die Rettung der Juden wäre für Stalin und die Rote Armee nie die Priorität gewesen, wie der Ministerpräsident behauptet?

- Nein. Man sollte sich nur daran erinnern, wie sich die Ereignisse damals entwickelten. Die Großoffensive, deren Ziel die Befreiung Polens war, war für den 20. Januar angesetzt. Ungefähr Anfang Januar (dieser historische Fakt ist gut bekannt) wandte sich Churchill an Stalin mit der Bitte, die Offensive vorzuverlegen, denn zu dem Zeitpunkt erlitten die Alliierten eine schwere Niederlage in den Ardennen – ihre Situation war sehr schwer. Und deshalb forderte er Stalin auf, an einigen Frontabschnitten die Offensive zu starten. Stalin hat ihm das versprochen und sein Wort auch gehalten – die Offensive begann um acht Tage früher. Das könnte ebenfalls als Antwort an diesen Herrn (Mateusz Morawiecki) dienen. In der Schlussphase des Kriegs sind wir in der ersten Woche um 150 Kilometer vorgerückt, vielleicht sogar um 200 Kilometer. Das machte ungefähr 20 Kilometer bzw. noch mehr am Tag aus. Ungefähr so war das Tempo der Wehrmacht in den ersten Kriegsmonaten auf unserem Territorium. Und diesmal war das unser Tempo, indem wir unser Land und dann Polen befreiten. Also gab es da keine Verzögerungen. Wenn Stalin es nicht gewollt hätte, Auschwitz zu befreien, dann hätten wir uns wohl irgendwo erholen müssen. Aber wir führten ununterbrochen Gefechte, ohne einmal eine Pause einzulegen.

Vergeltungsaktion gegen Deutsche

- Am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau muss ich einfach eine Frage über die damaligen Ereignisse stellen. Der Marschall der Sowjetunion, Iwan Konew, erinnerte sich in einem Buch, dass er es sich bewusst nicht erlaubt hätte, „das Todeslager mit seinen eigenen Augen zu sehen“. Könnten Sie bitte als einer der Auschwitz-Befreier über Ihre Emotionen erzählen? Wie schwer war es, den Umfang dieser menschlichen Tragödie nachzuvollziehen?

- Marschall Konew verweigerte das, weil es für ihn schwer gewesen wäre, zu sehen, was dort passiert war. Er fürchtete nämlich, dass dies seinen Gedankengang beeinflussen und ihn eventuell zu einer Vergeltungsaktion gegen die Deutschen provozieren könnte – oder auch umgekehrt: sich zu entspannen und zu denken, noch ein Einsatz wäre erfolgreich abgeschlossen worden.

Als ich mit meinen Kameraden Auschwitz betrat, sahen wir die Häftlinge. An ihren Gesichtern, an ihrem Aussehen war sofort zu erkennen, in welch miserabler Lage sie sich befanden, was sie erleben mussten. Jeder von uns dachte sich: Wir hätten doch auch an ihrer Stelle sein bzw. in die Gefangenschaft geraten können. Deshalb empfanden wir natürlich Mitleid mit diesen Menschen. An ihren Augen war zu sehen, dass sie verstanden hatten: Die Freiheit war gekommen, diese ganze Hölle war endlich vorbei, jetzt würden sie weiter leben. Vielleicht dachten sie, dass sie bald heimkehren könnten.

Unsere Sanitätsstaffeln haben ihnen erste Hilfe geleistet, sie gewaschen und mehr oder weniger in Ordnung gebracht. Die zuständige Kommission zählte nach, dass sich im Lager 8000 bis 10 000 Häftlinge befanden. Und eine Woche zuvor hatten die Deutschen 50 000 oder 60 000 Häftlinge aus Auschwitz herausgeführt – alle, die noch auf den Beinen stehen und gehen konnten. Sie alle wurden weiter in Richtung Deutschland getrieben. Viele von ihnen konnten diesen „Todesmarsch“ nicht überleben.

Wir hatten sehr wenig Zeit, um zu sehen, was im Lager vorgegangen war. Wir hatten keine Aufgabe zum Einsatz dort. Wir hörten immer wieder nur das Kommando: „Vorwärts!“ Es wurden sogar gewisse Fristen bestimmt, wann wir diese oder jene Stellen zu erreichen hatten. Schon Anfang Februar erreichten wir die Oder und begannen die Übersetzaktion. Seit dem Start der Offensive waren wir sehr weit vorgedrungen.

Stalin befasste sich mit Verteidigung, Hitler provozierte Aggression

- Was halten Sie davon, dass die polnischen Behörden jetzt die Sowjetunion für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs mitverantwortlich machen – neben Hitler-Deutschland?

- Das ist Unsinn, anders kann ich das nicht nennen. Das ist doch Teil des Informationskriegs, der gegen uns geführt wird. Es gibt klare Beweise dafür, dass alles gerade umgekehrt passierte. Schon in seinem Buch „Mein Kampf“, das Hitler 1925 und 1926 schrieb, betonte er, dass Deutschland seine bisherige Eroberungspolitik aufgeben und seinen Blick nach Osten richten sollte. Sein Ziel war, den europäischen Teil der Sowjetunion zu „reinigen“, die Ukraine zu erobern, die Bevölkerung dieser Gebiete in den Norden und über das Ural-Gebirge zu vertreiben und ohne Lebensmittel zu lassen, die nach Deutschland ausgeführt werden sollten.  Also sollte das Problem Lebensmittelversorgung Deutschlands auf Kosten gerade der Sowjetunion gelöst werden, wo nach Einschätzung der Nazis gleich im ersten Jahr 20 bis 30 Millionen Menschen verhungern sollten. Der Festigung der deutschen Herrschaft und der Vernichtung des sowjetischen Volkes war bekanntlich der Generalplan Ost gewidmet.

Und wer kann Dokumente oder Stalins einzelne Aussagen anführen, er hätte territoriale oder wirtschaftliche Ansprüche auf Deutschland, er wollte Deutschland etwas „wegnehmen“? Während des ganzen Kriegs ließen sich in Stalins Reden keine solchen Informationen finden. Denn er ging in seiner Politik von der Verteidigung aus, während Hitler auf Aggression und Eroberung setzte. Auch Hermann Goering verlangte, die Russen auszurauben und ihr ganzes Gut, das dem Reich dienen könnte, nach Deutschland auszuführen. Bei der Entfesselung dieses Krieges bekam Deutschland Hilfe von England, Frankreich und Italien, die mit ihm entsprechende Abkommen trafen. Es folgte die deutsche Aggression gegen die Tschechoslowakei. Polen halt nicht, weil es eigene Interessen sowohl in der Tschechoslowakei als auch in der Sowjetunion hatte. Mehr noch: Es entfesselte auch eine Aggression gegen die Tschechoslowakei. Darüber schrieb Churchill, der übrigens Nobelpreisträger auf dem Gebiet Literatur  war – in einem Buch, das in der Welt als historisches Forschungswerk gilt. Weder die Polen noch die Engländer noch der Westen insgesamt haben eine Ahnung von der Geschichte, wie sie von ihren Politikern dargestellt wird.

Man sagte uns klar und deutlich: Polen sei unser Verbündeter

- Was Polen angeht: Wie empfingen die Polen die Rotarmisten auf ihrem Territorium?

- Während der Gefechte versteckten sich die Einwohner natürlich. Wenn unsere Einsätze vorbei waren, versammelten wir uns und gingen weiter – und dann sahen wir die Menschen, die uns empfingen. Sehr rührend war der Empfang in Krakau. Da ging ein junger, sehr intelligent aussehender Mann auf mich zu und bat mich, ihm zu helfen, sein Klavier, dass ihm Deutsche weggenommen, aber nicht abschleppen konnten, wieder in seine Wohnung zu bringen. Meine Soldaten hörten unser Gespräch und sagten: „Genosse Oberleutnant, machen Sie sich keine Sorgen, der Mann soll nur sagen, wo das Klavier steht – wir werden es zu ihm schleppen.“ Da zuckte ich nur mit den Achseln und sagte: „Kein Problem, meine Soldaten sind bereit.“ Er zeigte uns, wo das Klavier stand, die Männer nahmen mehrere Schnüre mit- und schleppten es eben nach oben, in seine Wohnung. Und er lud uns im Gegenzug ein, bei ihm zu übernachten. Wir bedankten uns nur bei ihm: Wir hatten schon den Befehl bekommen, weiterzugehen.

Und das war kein Einzelfall. Viele interessante Dinge lassen sich in den Erinnerungen sowjetischer Feldherren, politischer Mitarbeitern finden, die erzählten, die Polen hätten sie herzlich empfangen, mit Blumen usw. Aber wie hätte es anders sein können, wenn man bedenkt, dass unser Oberster Befehlshaber, Josef Stalin, die Verfügung signiert hatte, die Bevölkerung Polens mit Lebensmitteln zu versorgen. Auch dort, in Krakau, stellte unsere Armee den Einwohnern mehrere Tonnen Getreide, Zucker, Mehl usw. zur Verfügung.

Man sagte uns klar und deutlich: Polen ist unser Verbündeter. Die Aufgabe jedes Soldaten und Offiziers war es, sich so zu verhalten, dass er keine Abneigung provoziert. Im Gegenteil: Wir hatten uns freundlich zu verhalten. Jeder unser Soldat sollte quasi Propagandist sein und erklären, zu welchem Zweck wir nach Polen gekommen waren. Außerdem erklärte man uns, dass Krakau und andere polnische Städte sehr viele alte architektonische Einrichtungen hatten. Deshalb sollten wir unsere Befreiungseinsätze so führen, dass möglichst nichts zerstört wird. Und als wir später durch Krakau gingen, sahen wir, dass die Stadt im Großen und Ganzen verschont geblieben war.

Als wären die Polen ausgewechselt worden

- In einem Interview zitierten Sie den bereits erwähnten Winston Churchill, der glaubte, es hätte immer zwei Länder unter dem Namen Polen gegeben, von denen eines für die Wahrheit kämpfte und das andere gemein war. Kann man so etwas in Bezug auf die heutige Situation sagen?

- Ich denke, Churchill wollte damit den Unterschied zwischen dem Volk und den Machthabern unterstreichen. Das polnische Volk ist wirklich tugendhaft und mutig. Ich sage das, weil ich nach dem Krieg mehr als ein Jahr lang meinen Dienst in Polen trug und manche Polen gut kannte. Und später arbeitete ich 20 Jahre im Sekretariat des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe in Moskau. Das war eine internationale Organisation, und bei uns arbeiteten unter anderem auch Polen. Wir reisten oft zu Beratungen nach Polen, und damals hatten wir nie Konflikte, egal ob im Alltag oder aus ideologischen Gründen.

- Was passiert denn zwischen unseren Ländern jetzt?

- Das ist ja unglaublich. Als ich 2005 zum 60. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung nach Krakau kam, wurden die Verdienste der Roten Armee während ihrer Befreiungsmission (und für die Befreiung Polens sind immerhin 600.000 sowjetische Soldaten gefallen) sehr hoch geschätzt. Wir waren vier Männer, die sich damals an der Auschwitz-Befreiung beteiligt hatten, und man hat uns allen Anwesenden vorgestellt, und sie alle klatschten uns Beifall. Dann zeichnete uns Präsident Aleksander Kwaśniewski mit den Orden für Verdienste um Polen aus. Präsident Wladimir Putin überreichte uns ebenda die Medaillen zum 60. Jahrestag des Sieges. Die Situation war völlig normal, und die polnischen Behörden verhielten sich gut uns gegenüber. Doch dann ist etwas passiert. Fünf Jahre später war ich wieder dabei, und es war so, als wären sie alle ausgewechselt worden – ich kam in ein völlig anderes Polen.

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