Autorius: RT deutsch Šaltinis: https://deutsch.rt.com/meinung... 2020-01-19 17:10:18, skaitė 639, komentavo 0
von Ulrich Heyden, Moskau
Wladimir Putin hat in seiner Rede zur Lage der Nation am 15. Januar vor der Föderalen Versammlung zwei neue strategische Linien für die russische Innenpolitik festgelegt, eine Verbesserung der sozialen Situation für die einfachen Menschen und eine Stärkung des Parlaments.
Dass unmittelbar nach dieser Rede der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew mit seinem gesamten Kabinett zurücktrat, hat einfache Russen mit denen ich sprach, begeistert. Sie haben keine genaue Vorstellung davon, was jetzt genau besser werden kann. Aber von Dmitri Medwedew hielten sich nichts. "Der spielt nur mit seinem iPhone", meinte eine Frau im mittleren Alter. Eine andere Frau meinte, sie vertraue nur Putin, dem Außenminister Lawrow und dem Verteidigungsminister Schoigu. Diese drei Politiker stehen für einen funktionierenden Staat ohne Korruption und sozialen Schutz.
Insbesondere die von Putin vorgeschlagene Verbesserung der sozialen Situation, der Kampf gegen die Armut und gegen den Bevölkerungsrückgang spricht die einfachen Menschen an. Denn die Einkommen sinken seit sechs Jahren. Der Großteil der Bevölkerung lebt von einem Einkommen von nur umgerechnet etwa 300 bis 400 Euro. Nur in Moskau kann ein Lehrer mit Berufserfahrung 1.400 Euro im Monat verdienen. In der Provinz sind die Gehälter weit niedriger.
Das Wirtschaftswachstum in Russland liegt bei nur einem Prozent – und eine wirtschaftliche Verbesserung ist nicht in Sicht. Die Menschen warten auf Veränderungen, wie der Präsident in seiner Rede auch richtig feststellte.
80 Prozent der Familien mit niedrigen Einkommen haben Kinder
In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung forderte Putin Maßnahmen, um den Bevölkerungsrückgang zu stoppen. Familien mit Kindern müssten finanziell mehr unterstützt werden.
Das 2007 eingeführte sogenannte "Mutterkapital" hatte positive Auswirkungen auf die Geburtenentwicklung. Doch in den letzten Jahren ist Russland mit einem neuen Problem konfrontiert. Die geburtenschwachen Jahrgänge aus den 1990er Jahren machen sich bemerkbar.
Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem wirtschaftlichen Chaos, welches dann ausbrach, sank die Bereitschaft in Russland, Kinder in die Welt zu setzen. Und dieser Knick in der Bevölkerungsstatistik macht sich jetzt bemerkbar. Nach Angaben der russischen Statistik-Behörde sank die Bevölkerung in den ersten acht Monaten des Jahres 2019 um 219.000 Menschen.
Noch nie habe es solche Maßnahmen zur Unterstützung der Familien gegeben, erklärte Putin. Aber zu Sowjetzeiten habe es auch nicht solch ein Auseinanderklaffen der Einkommen gegeben, erklärte der Präsident.
80 Prozent der Familien mit niedrigem Einkommen seien Familien mit Kindern. "Selbst wenn nicht nur ein, sondern beide Elternteile arbeiten, ist das Einkommen dieser Familien sehr niedrig", so der Präsident.
Das ist faktisch ein Eingeständnis, dass "der Markt" nicht automatisch zu Wohlstand und Wachstum führt. Der Staat kann und muss regulierend eingreifen.
Nach Berechnung von Finanzminister Anton Siluanow werden die von Putin in seiner Jahresansprache vorgeschlagenen sozialen Maßnahmen 6,4 Milliarden Euro kosten. Man werde das Geld über Steuereinnahmen hereinbekommen, meinte Siluanow.
Was schlug Putin genau vor?
Der Kreml-Chef schlug vor, dass es für die ersten beiden Kinder rückwirkend ab dem 1. Januar 2020 jeden Monat einen Zuschuss von durchschnittlich 157 Euro gibt. Die gleiche Summe soll für Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren gezahlt werden, deren Eltern ein Einkommen unter dem Mindestlohn haben. Der Mindestlohn liegt derzeit bei 157 Euro.
Das im Jahre 2007 eingeführte "Mutter-Kapital" – ein Zuschuss für das zweite Kind in Höhe von 6.700 Euro – soll es nun schon für das erste Kind geben. Für das zweite Kind soll das Mutterkapital die Höhe von 8.800 Euro erreichen.
Außerdem sollen alle Grundschüler ab dem 1. September 2023 ein kostenloses warmes Mittagessen bekommen. Das Mittagessen in den Schulen muss heute noch von den Eltern der Kinder allein bezahlt werden. Nur Kinder aus armen Verhältnissen bekommen bis heute ihr Mittagessen umsonst.
Dmitri Medwedew schob als Präsident umstrittene Reformen im Sozial- und Bildungsbereich an
Der jetzt zurückgetretene Ministerpräsident Dmitri Medwedew hatte sich mit seiner Reform-Politik keine Sympathien in der Bevölkerung erworben. Denn diese Reformen führten zu keinerlei qualitativer Verbesserung im Sozial- und Bildungsbereich.
Fast alle diese Reformvorschläge wurden in der Moskauer Higher School of Economics erarbeitet, einer 1992 unter dem damaligen Ministerpräsidenten Jegor Gaidar gegründeten Hochschule. Präsident der Hochschule ist Alexander Schochin, der zugleich auch Präsident des russischen Industriellen- und Unternehmerverbandes ist.
Die unter Medwedew begonnenen Reformen sollten den Sozial- und Bildungsbereich "optimieren". Bestimmte Bereiche wurden kommerzialisiert. Doch die Reaktionen folgten prompt: Erst protestierten Schüler und Lehrer gegen die Reduzierung der Pflichtfächer und den Wegfall des Faches "Russische Literatur" in den Abgangsklassen sowie gegen die Einführung von kostenpflichtigen Interessensgruppen für Schüler.
Dann gab es Proteste gegen die neu eingeführte Abschlussprüfung in der 11. Klasse, die (nach US-amerikanischem Vorbild) im Multiple-Choice-Verfahren abzulegen ist.
Eine landesweit einheitliche Abschlussprüfung mit den gleichen Fragen solle Chancengleichheit für alle Regionen garantieren, sagen die Befürworter. Andere sagen, die Schüler bereiten sich jetzt mit speziellen Betreuern ("Repetitoren") nur noch auf die überschaubare Anzahl möglicher Fragen vor. Das führe keineswegs zu einer Verbesserung der Bildung, sondern vielmehr zu einer Verschlechterung.
2013 schließlich protestierten Wissenschaftler in Moskau und anderen Städten gegen die Zusammenlegung der Russischen Akademie der Wissenschaften mit der Akademie der medizinischen Wissenschaften und der Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften. Die Wissenschaftler, die nicht mehr als 500 Euro verdienen, befürchteten weitere Einkommenskürzungen.
Bringt Digitalisierung mehr Wohlstand?
Ein Schlüsselelement der Reformen in Russland war die Digitalisierung zahlreicher Lebensbereiche, vom U-Bahn-Ticket bis zur Registrierung in der Poliklinik.
Sicher hat die Digitalisierung Fortschritte gebracht. Man braucht beim Arzt nicht mehr stundenlang in einem Korridor warten. Warten kann man jetzt zuhause.
Außerdem gibt es jetzt landesweit Zentren, wo die Russen – nach Vorlage bestimmter Dokumente – alle möglichen Urkunden und Ausweise bestellen können, vom Geburtsschein, dem Pass bis zum Führerschein. Auch das ist ein Fortschritt, musste man doch früher verschiedene Ämter abklappern.
Doch die Bestechlichkeit in den Krankenhäusern wurde durch die Digitalisierung nicht gestoppt. Bis heute ist es üblich, dass Ärzte für eine Operation einen "Dank" erhalten, das heißt einen Briefumschlag mit mindestens 30.000 Rubeln (430 Euro). Zu Sowjetzeiten reichte eine Flasche Kognak.
Proteste gegen die Zusammenlegung von Krankenhäusern
Auch im Bereich der Krankenhäuser und Ambulanzen gab es einschneidende Reformen. Seit 2014 wurden Löhne und Gehälter gesenkt, Krankenhäuser zusammengelegt und dann personell auch noch ausgedünnt.
Die Kritik an den baulich meist veralteten Krankenhäusern und Polikliniken, die oft bereits seit Jahrzehnten nicht modernisiert worden waren, machten sich diese Reformer dafür zunutze. Teilweise wurden Gebäude zwar modernisiert und moderne Geräte angeschafft, doch eine wirkliche Trendwende war das nicht.
Wer in Russland Geld hat, besucht lieber eine der in den Großständen zahlreich entstandenen Privatkliniken.
Im letzten Jahr gab es Proteste von Ärzten in mehreren Städten. Wegen ständiger Überstunden und veralteter Ausrüstung erklärten Ärzte vom Kinderkrankenhaus in Weliki Nowgorod, sie würden nur noch Dienst nach Vorschrift machen.
Proteste von Ärzten und Patienten gab es auch gegen die Schließung des 40. Krankenhauses in Moskau. Das Krankenhaus liegt im nordöstlichen Stadtbezirk, der 1,4 Millionen Einwohner zählt. Das 40. Krankenhaus ist in dem Bezirk das einzige auf Krebserkrankungen spezialisierte Krankenhaus.
Die Mitarbeiter des Krankenhauses sollen nun vom Norden Moskaus an den südlichen Stadtrand – außerhalb des Autobahnrings – in ein neues, hochmodernes Krankenhaus im Stadtteil Kommunarka des Moskauer Verwaltungsbezirks Nowomoskowski umziehen.
Eine schrittweise Modernisierung des 60 Jahre alten 40. Krankenhauses und damit eine weiterhin patientennahe Versorgung kamen für die Planer offenbar nicht in Betracht.
Nach Angaben des Zentrums für wirtschaftliche und politische Reformen hat sich in Russland zwischen 2005 und 2015 wegen Schließungen die Zahl von Krankenhäusern nahezu halbiert (von 10.700 auf 5.700) und sank die Zahl der Polikliniken von 21.300 auf 18.600.
Von den Reformen besonders betroffen waren die Ambulanzen in den Dörfern. Nach Angaben des Zentrums für ökonomische und politische Reformen haben 17.500 russische Orte keinerlei eigene medizinische Infrastruktur.
Als ich 2013 das Dorf Jermakowo in der Oblast Jaroslawl besuchte, fünf Autostunden nordöstlich von Moskau, sah ich zwar eine in einem Blockhaus untergebrachte Dorfschule mit 58 Schülern. Das kleine Krankenhaus im Ort war aber schon vor zehn Jahren geschlossen worden. Und weil auch die Geburtsklinik im dreißig Kilometer entfernten Bezirkszentrum Poschechonje geschlossen worden war, mussten die Frauen zur Entbindung in die hundert Kilometer entfernte Stadt Rybinsk fahren.
Dass die Gesundheitsreform faktisch gescheitert war, wurde zunehmend auch zum Thema in den russischen Medien. Die russische Vizeministerpräsident Tatjana Golikowa gestand im November 2019 gegenüber dem Fernsehkanal Rossija 1 ein, dass die Optimierung der Krankenhäuser in vielen russischen Regionen "nicht erfolgreich" war.
Wie ich selbst die Gesundheitssituation in Russland erlebe
Ich fühle mich wohl in Russland, muss aber zugeben, dass auch mir persönlich der Gesundheitsbereich Sorgen macht. Ein Beispiel: Im Juli 2018 war ich mit meiner Frau – einer Russin – zu Gast bei Freunden auf einer Datsche im Westen Moskaus. Als wir dort mit unserem Hund an einem Feldrand spazieren gingen, tauchte unerwartet ein Bewohner der Siedlung mit seinem nichtangeleinten Wachhund, einem russischen Terrier, auf. Ehe wir einschreiten konnten, griff der Terrier unseren Hund an. Als meine Frau unseren Hund retten wollte und ihn mit den Armen umschlang, wurde sie von dem Terrier in Hand und Bein gebissen.
Nachdem die Hunde auseinandergezerrt worden waren, fuhren wir in das nächstgelegene Krankenhaus in der Stadt Seljatino, um meine Frau gegen Tollwut impfen zu lassen. Der Halter des Terriers hatte sich in all der Aufregung mit seinem Tier wortlos aus dem Staub gemacht.
Im Krankenhaus von Seljatino sagte man uns, gegen Tollwut hätten sie keinen Impfstoff.
Im nächsten Krankenhaus im Moskauer Bezirk Solnzewo gab es in der Ambulanz eine große Warteschlange und so entschlossen wir uns, nun ins Moskauer Stadtzentrum zu fahren.
Schon im Krankenhaus von Seljatino hatte man uns geraten, wir sollten in das Sklifasowski-Krankenhaus im Stadtzentrum von Moskau fahren. Das ist ein angesehenes Krankenhaus, das auf alle Fälle von Unfällen vorbereitet ist. Dort bekam meine Frau sechs Spritzen, eine gegen Tetanus, die restlichen gegen die Tollwutgefahr.
Doch damit war unser Tollwut-Drama noch nicht beendet. Im letzten Jahr versuchten wir unseren Hund gegen Tollwut impfen zu lassen. Doch es dauerte vier Monate, bis wir eine tierärztliche Einrichtung gefunden hatten, die einen geeigneten Impfstoff vorrätig hatte.
Noch kein Sozialstaat
Meiner Meinung nach hat Wladimir Putin mit seiner Rede vor der Föderalen Versammlung deutlich gemacht, dass die Russische Föderation staatlich mehr in die soziale Versorgung der Bevölkerung investieren muss. Der russische Präsident legte den Schwerpunkt auf die finanzielle Unterstützung von Familien mit Kindern. Das kann meiner Meinung nach nur der Anfang sein. Die laufende Gesundheitsreform muss korrigiert werden. Denn die Bevölkerung ist mit dieser Reform nicht zufrieden.
Es gibt in Russland sehr gute Mediziner und sehr gute Krankenhäuser. Aber bei Lohnkürzungen, Entlassungen und ständigen Überstunden schwindet die Motivation der Mediziner, so dass eine sehr gute Versorgung nur noch der bekommt, der gute Beziehungen hat und aus privater Tasche zuzahlt.
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