Autorius: RT deutsch Šaltinis: https://deutsch.rt.com/meinung... 2016-12-26 10:40:15, skaitė 865, komentavo 0
Für den Jura- und Philosophiestudent Danilo Flores gibt es bei seinem Austauschsemester in St. Petersburg auch fachlich viel zu entdecken. In Seminaren und Vorlesungen entdeckt der Hamburger beeindruckende Gemeinsamkeiten zwischen russischem und europäischem Recht.
von Danilo Flores
Das deutsche und das russische Rechtssystem sind nahezu identisch. Über Schadensersatzansprüche in einer grenzüberschreitenden Streitigkeit zwischen einer deutschen und einer russischen Vertragspartei ließe sich aufgrund der Ähnlichkeit der beteiligten Rechtsordnungen leichter entscheiden als in einer Streitsache beispielsweise zwischen britischen und deutschen Vertragspartnern. Das angelsächsische Recht ist „case law“, Fallrecht. Das heißt, es kommt immer auf den Präzedenzfall an, darauf, wie der Richter einen bestimmten Sachverhalt zuerst entschieden hat. Die richterliche Beurteilung der Situation wird dann zum verbindlichen Rechtsprinzip in allen darauffolgenden ähnlich gelagerten Fällen erhoben.
Das deutsche und das russische Recht sind „abstrakt-generell“. Der Gesetzgeber versucht für jede nur denkbare Konstellation an möglichen Geschäftsbeziehungen zwischen Personen vorab eine ausgewogene Regel parat zu haben, auf die im Streitfall zurückgegriffen werden kann. Diese Regeln werden dann in einem dicken Buch zusammengetragen, „kodifiziert“. In Deutschland haben wir das „Bürgerliche Gesetzbuch“ – kurz: BGB – und in Russland das „Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation“ oder ZGB.
Ist die Sprachhürde einmal genommen, findet man sich als deutscher Jurastudent ausgesprochen leicht in der russischen Rechtslandschaft zurecht. Manche Regelungen des BGB und des ZGB entsprechen einander fast bis ins letzte Detail – etwa die Bestimmungen darüber, was eine rechtskräftige Vertretung ausmacht. Das kommt nicht von ungefähr. Russland blickt auf eine Rechtsgeschichte zurück, die maßgeblich von der deutschen Jurisprudenz beeinflusst worden ist. Die ersten Professoren und Studenten an der von Peter dem Großen gegründeten Juristischen Fakultät der Staatlichen Universität von Sankt Petersburg waren Deutsche. Und als es nach dem Fall der Sowjetunion in Windeseile ein marktwirtschaftstaugliches Zivilrecht für die frischgebackene Russische Föderation zu erarbeiten galt, hat man sich insbesondere von deutscher und niederländischer Rechtsdogmatik inspirieren lassen.
Die Juristische Fakultät der Universität Sankt Petersburg hat einen illustren Kreis an Alumni hervorgebracht: Präsident Wladimir Putin hat hier studiert, genauso wie der Maler Nicholas Roerich und der Dichter Alexander Blok. Auch Lenin und Zar Nikolaus II. haben hier ihr Studium der Rechtswissenschaften absolviert. In der Bibliothek hängen Reproduktionen von den ebenso farbenprächtigen wie symbolträchtigen Gemälden des Universalgenies Roerich. Später hat es Roerich – manche sagen: als Spion – nach Zentralasien verschlagen, wo er dem Geheimwissen der „Alten Meister“ nachgespürte. Nebenbei soll es um eurasische Geopolitik gegangen sein. Für mich sind Roerichs raunende Bilder Zeugnisse der Berührung mit höheren Welten, die letzten Relikte aus einer Zeit, als Visionen dem inneren Auge noch nicht von viereckigen Bildschirmen vorgegaukelt werden mussten.
Einen höheren Stellenwert als in Deutschland nimmt in Russland das römische Recht ein. Einen entsprechenden Kurs zu belegen ist hier Pflicht. Römische Patrizier waren die ersten, die einen Vertrag als eine zwischen die Vertragsparteien gespannte „Fessel des Rechts“ (lateinisch „vinculum iuris“) auffassten, welche gegenseitige Rechte und Pflichten mit sich bringt. Im BGB finden sich tatsächlich noch Rechtsgedanken, die auf den sogenannten „Corpus iuris civilis“ von Justinian aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. zurückgehen. Der oströmische Kaiser hatte seine Rechtsgelehrten damit beauftragt, die zerstreuten römischen Gesetze in einem einheitlichen Kodex zu bündeln. Der daraus entstandene „Corpus iuris civilis“ wurde zu einer der Hauptquellen für die spätere Erschließung des römischen Rechts durch die europäischen Humanisten.
Das deutsche Zivilrecht ist seinerseits stark geprägt vom römischen Recht. So schließt sich der Kreis: Römisches Recht ist oströmisches, also byzantinisches Recht, denn ohne die von Kaiser Justinian angestoßene Kodifizierung wäre das römische Recht nicht über die Jahrhunderte überliefert worden. Durch die Vermählung von Sofia Palaiologa, der Nichte des letzten Kaisers von Byzanz, mit dem Großfürsten von Moskau Iwan III. wurde Russland im Jahr 1472 nach den Regeln der dynastischen Erbfolge zum rechtmäßigen Nachfolger von Byzanz.
Die Deutschen greifen das römische Recht auf – und bringen es in modernisierter Form zurück nach Russland, woher es ursprünglich stammt: Re-Import eines Rechtssystems. Der russische „Zar“ leitet sich ab vom römischen „Caesar“ und Moskau wird von manchen auch als „Drittes Rom“ bezeichnet. Das „Erste Rom“ ist vom wahren Glauben abgefallen und huldigt dem Popen, das „Zweite Rom“ – Byzanz – wurde von den Osmanen eingenommen. Nur noch Moskau steht. So sieht es der Mönch Filofej, der in einer Schrift von 1523 prophezeit: „Rom ist zweimal gefallen, das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben.“
Mit Schaudern erinnere ich mich an die Pflichtvorlesung im Europäischen Recht. Chamäleonartige Namenswechsel der grundlegenden Vertragswerke, Unklarheit, ob man unter diesem amorphen Gebilde namens EU völkerrechtlich nun etwas staatsähnliches zu verstehen habe oder nicht, Gesetze mit Titeln wie Strichcodes und ein solches institutionelles Wirrwarr, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.
Dagegen die wohltuende Klarheit und Bündigkeit des römischen Rechts. Deutsche Gelehrte wie Friedrich Carl von Savigny beherrschten es mit einer Meisterschaft, die ihresgleichen sucht. Das römische Erbe des deutschen Rechts gehört zu den vielen in Vergessenheit geratenen Gemeinsamkeiten mit Russland. Bei einer so verflochtenen gemeinsamen Geschichte – warum ziehen die beiden Länder nicht endlich an einem Strang? Führen doch bekanntlich alle Wege – nicht nach Brüssel, sondern nach Rom.