Autorius: Karin Kneissl Šaltinis: https://deutsch.rt.com/europa/... 2023-02-15 22:55:00, skaitė 503, komentavo 0
Symbolbild
Von Dr. Karin Kneissl
Als die Europäischen Gemeinschaften zur politischen Europäischen Union wurden, wehrten sich im Jahr 1992 angesichts des Vertrags von Maastricht einige Mitglieder heftig. Dazu gehörte Frankreich. Und dies aus gutem Grund, denn Frankreichs Außenpolitik steht unabhängig von der jeweiligen Ideologie des Präsidenten und Premier in der Tradition von Charles de Gaulle. Und gaullistische Politik steht für staatliche Souveränität.
Für den General und späteren Präsidenten, dem die Aussöhnung mit Deutschland und der Abzug aus Algerien gelangen, ging es stets um ein Europa der Vaterländer. Die Idee einer Föderation, wie sie die Verfechter der "Vereinigten Staaten von Europa" verfolgten, lehnte der Franzose konsequent ab. Anstatt in einem transatlantischen Bündnis auf allen Ebenen ohne Wenn und Aber als US-Anhängsel aufzugehen, schwebte De Gaulle vielmehr eine enge Kooperation zwischen Paris, Berlin und Moskau vor. De Gaulle wusste um das alte geopolitische Konzept Eurasien und das damit verbundene Potenzial. Die Abkürzung UdSSR nahm er nicht in den Mund, stattdessen sprach er stets von "la Russie", da ihm die Sowjetunion als eher temporäres Staatengebilde erschien.
Die EU-Skepsis ist nicht neu
Im Jahre 2004 lehnten die Gründungsstaaten der europäischen Integration, Frankreich und die Niederlande, den damals vorliegenden Entwurf einer gemeinsamen europäischen Verfassung ab. Den Wählern gingen die Vergemeinschaftung, aber noch viel mehr die Abwanderung von Arbeitsplätzen zu weit. Zur Erinnerung: In jenem Jahr erfolgte die große sogenannte "Osterweiterung". Die Zahl der EU-Mitglieder stieg von 15 auf 25. Jegliche ernsthafte politische Debatte im Plenum wurde damit noch seltener und letztlich unmöglich. Die wesentlichen Entscheidungen werden in zwei bis drei Hauptstädten getroffen, der Rest fügt sich. Für neue Mitglieder wie Polen und Ungarn, die historisch betrachtet stets um ihre nationale Eigenständigkeit ringen mussten, führte diese Erfahrung zu einer Ernüchterung, die meines Erachtens von Anbeginn absehbar war. Die Entfremdung zwischen den Brüsseler Generaldirektionen und den Regierungen im neuen alten Mitteleuropa begann nicht mit dem Krieg in der Ukraine, sondern bereits vor Jahren. Mit dem europäischen Eintopf konnten auch diese Gesellschaften, ähnlich wie die Franzosen, immer weniger anfangen.
Denkschulen fochten lange einen akademischen Streit, in welche Richtung der europäische Einigungsprozess laufen solle: zu den Vereinigten Staaten von Europa, also einer Föderation mit gemeinsamen Institutionen für die wesentlichen Themen, wie Sicherheit, Justiz, Gesundheit u. v. m. oder zu einem Europa der Vaterländer? Letztere Variante verfolgte Frankreich Charles de Gaulle. Ein wenig gaullistisch ist jede französische Regierung, vor allem in ihrer Außen- und Europapolitik. Den Pro-NATO-Ausreißer machte Nicolas Sarkozy vor rund 15 Jahren.
Angesichts von Krieg, Rezession und den tiefgehenden gesellschaftlichen Klüften nach drei Jahren Pandemie Restriktionen wird der EU-Eintopf nun zunehmend infrage gestellt. Konsequent agiert die konservative ungarische Regierung unter Langzeit-Premier Viktor Orbán, der nun der Doyen in den EU-Räten ist und auf die Unterstützung seiner Wähler zählen kann. Er und seine Kabinettsmitglieder stellen sich offen und klar gegen die Russland-Sanktionen, wenngleich sie diese Beschlüsse mittragen, so pochen sie auf Ausnahmen. Ohne die USA beim Namen zu nennen, erinnerte der ungarische Außenminister vor einigen Tagen an das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, zumal US-Vertreter sich immer öfter und lauter in die ungarische Innenpolitik, Presseförderung und Rechtsprechung einmischen.
Da manche Kommentatoren nun eine neue Allianz zwischen Ungarn und Österreich zu erkennen meinen, da beide Regierungen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind, darf ich daran erinnern, dass Ungarn viel klarer und konsequenter von Anbeginn gegen eine Unterstützung von Kiew aufgetreten ist. Das neutrale Österreich beteiligte sich intensiv an vielen nicht erforderlichen PR-Aktionen in der Ukraine. Für Ungarn geht es auch um die ungarische Bevölkerung auf dem ukrainischen Staatsgebiet – eine Folge der Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Der aus Lemberg stammende Schriftsteller Joseph Roth beschrieb in seinen Romanen vortrefflich das Völkergemisch aus Ruthenen, Ungarn, Galiziern, Russen, Deutschen etc.
Im EU-Korsett und in der großen Krise
Die Donaumonarchie der Habsburger, die weite Teile Mitteleuropas unter eine Krone brachte, wurde von ihren Kritikern als "Völkerkerker" bezeichnet. Die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, vor allem jene des Jahres 1848, stärkten Nationalisten, ob in Italien oder Ungarn und Böhmen. Budapest gelang es nach blutigen Aufständen, an der Krone über den Ausgleich mit Wien teilzuhaben. Die slawischen "Untertanen" wollten auch einen solchen Kompromiss, doch scheiterten sie nicht nur an der Wiener Staatskanzlei, sondern auch an den Ungarn, die ihren Sonderstatus nicht teilen wollten. Als Kaiser Karl kurz vor Schluss noch ein "Manifest" an "seine Völker" richtete, war es bereits viel zu spät. Der Begriff eines solchen Völkerkerkers übernahmen in der Folge Historiker der DDR. Was letztere vielleicht nicht wahrhaben wollten, war das Transnationale, welches den europäischen Hochadel vor allem in Mitteleuropa prägte. Zudem waren alle mehrsprachig. Man hatte Verwandte und Schlösser, ob jenseits der Karpaten oder an der schmalen Donau westlich von Wien.
Karte von Europa aus dem Jahre 1829
Das Europa, das die Vordenker der deutsch-französischen Aussöhnung auf den Schlachtfeldern in den 1950er-Jahren zu organisieren versuchten, war ein reines Wirtschaftsprojekt, über welches man zu friedlichen Beziehungen gelangen wollte. Der europäischen Einigung kamen infolge des Abgangs der Kriegsgeneration auch jene Menschen abhanden, die Krieg und Entbehrung kannten. Die politische Union hatte die Vergemeinschaftung von Landwirtschaft, Fischerei und Wettbewerb erreicht, aber die Außenpolitik sollte stets die nationalen Interessen vorantreiben. Paris gelang dies meist besser als Bonn und später Berlin.
Anstatt europäische Kultur in einem echten gemeinsamen europäischen Geist zu leben, ging es meist nur um Kulturprojekte. Die Ideologisierung allen Kulturschaffens wurde mit der sogenannten "Cancel Culture" offensichtlich. Wer auf dem Radar der europäischen Werte unerwünscht war, war mit Existenzsorgen konfrontiert. Im Zuge des Ukrainekriegs wurden dann immer öfter russische Kulturschaffende mit einer Art zeitgenössischer Exkommunikation konfrontiert, falls sie nicht sich auf einen modernen Ablasshandel einließen, also Erklärungen unterschrieben, in welchen sie sich laut und öffentlich von der Politik Russlands distanzieren mussten. Wer dies verweigerte, hatte Probleme. Und dies betraf dann bald nicht nur die Kulturszene.
Das Korsett der EU und ihrer Werte wie auch der Kriegspolitik und Waffenlieferungen wird immer enger geschnürt. Wie auch immer man nun den aktuellen Zustand der Beziehungen zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten untereinander sowie zu den EU-Institutionen beschreiben möchte, eine Atmosphäre des Auseinanderdriftens ist spürbar.
Ich hatte mit einer Renationalisierung und auch Fragmentierung der EU bereits vor einem Jahrzehnt gerechnet, denn die damalige Euro-Krise und die Kriege im Nahen Osten hatten zu einem europäischen Scherbenhaufen geführt. In meinem Buch "Die Zersplitterte Welt – was von der Globalisierung bleibt" (Wien 2013) rechnete ich mit einem Zerfall der Europäischen Union und verwies damals bereits auf den Brexit, der dann drei Jahre später einsetzte.
Der Krieg als Brandbeschleuniger
Im Jahre 2023 beschleunigt der Stellvertreterkrieg in der Ukraine das Geschehen. Ist es wieder einmal ein Krieg, dem zudem viele europäische Regierungen und auch weite Teile der Bevölkerung laut zujubeln, der für die große Zäsur sorgt?
Die historischen Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs, der alles Tun vor allem in Deutschland seither mitbestimmte, werden im Zusammenhang mit der russischen Invasion in die Ukraine in Russland betont. Was der Rest Europa in seinem ahistorischen Handeln über die letzten Jahre bereits nicht verstand, ist genau dies: Der rund 26 Millionen Opfer des großen Vaterländischen Kriegs wird nicht nur in Prozessionen am 9. Mai im gesamten Russland gedacht. Der Vernichtungsfeldzug Deutschlands jener Zeit, die Leningrader Blockade und all die Verbrechen an der Ostfront sind nicht nur museal in Russland präsent, sondern in jeder Generation.
Wenn nun also deutsche Panzer wieder in einem Krieg mit Russland zum Einsatz kommen, dann tritt dies für Millionen Russen sehr viel los, wie auch immer sie zum Krieg oder zur Regierung stehen.
Auch wenn ich Jahrgang 1965 bin und für mich die Kriegszeit mit dem Leid der Großeltern verbunden ist, so sehe ich als historisch interessierter Mensch noch viel mehr die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs. Und auch gewissen Parallelen jener Epoche mit unserer Zeit. Denn ich rechne eher mit einer Zersplitterung in Europa, so wie nach 1918, als die Donaumonarchie zerfiel. Und mit ihr ging auch ein Geist der Mehrsprachigkeit und vor allem des Konsenses unter. Das kleinräumige Europa mit seinen vielen Völkern und den vielen Geschichten zur Geschichtsschreibung war eines der vielen Freiheiten und der Ideen.
Die EU des Jahres 2023 verkennt die Grautöne, welche das politische Leben ausmachen. Nichts ist schwarz-weiß. Doch der aktuelle archaische Zugang ebendieser Schwarz-Weiß Politik führt ins Nirgendwo.