Interview mit Ex-General Harald Kujat: „Reales Risiko für Krieg in Deutschland“

Autorius: Ano Šaltinis: https://www.anonymousnews.org/... 2023-01-12 18:05:00, skaitė 446, komentavo 0

Interview mit Ex-General Harald Kujat: „Reales Risiko für Krieg in Deutschland“

Harald Kujat war Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, ist vielleicht im Moment einer der klügsten Kommentatoren des militärisch-politischen Geschehens zwischen Russland und der Ukraine. Und er hat brisante Neuigkeiten, die hierzulande durch Medien und Bundesregierung verschwiegen werden.

von René Nehring

Rund sieben Monate nach Beginn des Ukrainekriegs scheint kein Ende in Sicht. Während Russland seine Reservisten mobilisiert und die Konfliktparteien fast täglich mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen, beschädigt ein Sabotageakt die Pipelines Nord Stream 1 und 2. Steht die Welt am Abgrund – oder gibt es in all dem Irrsinn doch Zeichen der Hoffnung? Fragen an einen überzeugten Transatlantiker, der trotz seiner prowestlichen Grundorientierung seit Jahrzehnten für einen fairen Austausch mit Russland plädiert.

Herr Kujat, vor wenigen Tagen verkündete Russland eine Teilmobilmachung seiner Streitkräfte, zudem sind fast täglich Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen zu hören, und zuletzt wurden in einem großangelegten Sabotageakt die Nord- Stream-Leitungen massiv beschädigt. An welchem Punkt stehen wir Ihrer Meinung nach in diesem Krieg?

Obwohl diese drei Ereignisse zum gleichen Konflikt gehören, ist es am besten, sie nacheinander abzuarbeiten. Der erste Punkt ist die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte. Viele im Westen sehen dies als Beleg dafür, dass Russland im Ukrainekrieg militärisch am Ende ist und dies den letzten Versuch darstellt, militärisch zu retten, was noch zu retten ist. Das hält uns jedoch davon ab, die Lage unvoreingenommen zu bewerten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Viel wahrscheinlicher als das Aufstellen eines „letzten Aufgebots“ ist, dass Russland versuchen wird, mit den zusätzlichen Truppen seine Eroberungen zu konsolidieren – also den Donbass mit den Verwaltungsbezirken Donezk und Luhansk sowie die Gebiete Cherson, von wo die Wasserversorgung der Krim erfolgt, die 2015 von der Ukraine unterbrochen wurde, und Saporischschja. Am vergangenen Freitag hat Präsident Putin diese vier Gebiete mit einem großen Staatsakt annektiert. Mit den zusätzlichen Truppen will er offenbar diese Eroberungen nun als russisches Territorium verteidigen und jedweden Angriff abwehren.

Die im Rahmen der Annexionszeremonie gehaltene Rede Putins enthielt scharfe Vorwürfe gegen den Westen und wurde vielfach als neue Eskalationsstufe betrachtet. Teilen Sie diese Bewertung?

Natürlich war die Rhetorik Putins scharf. Andererseits wäre es illusorisch zu erwarten, dass der Präsident mitten in einem Krieg weiche Töne anschlägt. Wir, der Westen, sollten uns jedoch sowohl von der Rhetorik Putins als auch von der Rhetorik mancher Kommentatoren nicht beeindrucken lassen, sondern sachlich überlegen, welche weiteren Schritte aus der Lage entstehen könnten. So könnte Putin, der bislang keines seiner Kriegsziele erreicht hat, einen gesichtswahrenden Ausweg finden und erklären, dass er mit der Eingliederung dieser vier Gebiete die Ziele seiner „begrenzten militärischen Spezialoperation“ erreicht hat und deshalb die Kampfhandlungen einstellt.

Wie realistisch ist ein solches Szenario? Bislang hat Russland ja auch keinen Frieden angeboten.

Zumindest in der Öffentlichkeit. Allerdings hat der russische Präsident in seiner Rede zur Teilmobilmachung auf einen sehr wichtigen Punkt hingewiesen, der in den Übersetzungen deutscher Medien nicht vorkommt. Und zwar hat Putin – er betonte, dass er dies zum ersten Mal in der Öffentlichkeit bekanntmacht – gesagt, dass es bereits Anfang April eine Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland über ein Ende der Kampfhandlungen und eine Friedenslösung gegeben habe. Diese Vereinbarung beinhaltete, dass sich Russland aus allen seit dem 24. Februar 2022 eroberten Gebieten zurückzieht, im Gegenzug die Ukraine auf einen NATO-Beitritt verzichtet und dafür Sicherheitsgarantien von verschiedenen Staaten erhält.

Damit hätte der Krieg bereits im Frühjahr beendet werden können! Doch er ist nicht beendet worden, weil zu diesem Zeitpunkt, präzise am 9. April, der damalige britische Premierminister Johnson nach Kiew reiste und veranlasste, dass der ukrainische Präsident Selenskyj dieses Abkommen nicht unterzeichnete und die Gespräche mit Russland abbrach.

Aber wie glaubwürdig ist diese Behauptung Putins? In seiner Rede zur Mobilmachung hat er ja auch wieder alte Propaganda-Lügen wie die vom Kampf gegen die „Neonazis“ in der Ukraine herausgeholt. Und warum sollten die Briten eine Verlängerung des Krieges veranlasst haben?

Putins Aussagen werden unter anderem gestützt durch Artikel der US-amerikanischen Zeitschriften „Foreign Affairs“ und „Responsible Statecraft“ (hier am 2. September 2022), in denen die Vereinbarung zwischen Ukrainern und Russen ebenfalls erwähnt wird.

Das von Johnson überbrachte Nein des Westens hatte laut „Responsible Statecraft“ zwei Gründe. Erstens: Mit Putin kann man nicht verhandeln, weil er ein Kriegsverbrecher ist. Und – das ist wesentlich spannender – zweitens: Der Westen ist nicht bereit für das Kriegsende! In diesem Zusammenhang ist ein Artikel aus der „Ukrainska Prawda“ vom 5. Mai interessant, in dem es heißt, dass der „kollektive Westen, der Selenskyj im Februar vorgeschlagen hatte, sich zu ergeben und zu fliehen, nun das Gefühl habe, dass Putin nicht wirklich so mächtig sei, wie man es sich zuvor vorgestellt hatte, und dass dies eine Chance sei, ihn unter Druck zu setzen“.

Seit Ausbruch des Krieges wird viel von „Zeitenwenden“ gesprochen – dieser 9. April 2022 war tatsächlich ein Wendepunkt, weil der Krieg hätte beendet werden können. Doch haben Erwägungen, den geopolitischen Rivalen Russland unerwartet schwächen zu können, dies verhindert. Ein nächster Wendepunkt könnte nun wieder anstehen, falls Putin seine „militärische Spezialoperation“ für beendet erklären sollte. Dann stellt sich wieder die Frage, wie der Westen handelt.

Die gegenwärtige Rhetorik der Kriegsparteien hört sich allerdings nicht nach Waffenstillstandsgesprächen an. Im Gegenteil gibt es fast täglich Drohungen von Nukleareinsätzen.

In der Tat. Wobei hier zur Wahrheit gehört, dass die Drohungen von beiden Seiten kommen. So forderte ein enger Berater des ukrainischen Präsidenten unlängst in einem Interview mit der britischen Zeitung „The Guardian“: „Die anderen Nuklearstaaten müssen mit aller Entschiedenheit sagen, dass es, sobald Russland auch nur daran denkt, Atomwaffen auf fremdem Territorium – in diesem Fall auf dem Territorium der Ukraine – einzusetzen, zu schnellen nuklearen Vergeltungsschlägen kommen wird, um die nuklearen Abschussrampen in Russland zu zerstören.“ Die Ukraine fordert also den Einsatz von Atomwaffen gegen Russland noch bevor die Russen selbst welche eingesetzt haben.

Außerdem verlangen sowohl Selenskyj als auch sein Generalstabschef Walerij Saluschnyi vom Westen ATACMS-Waffen (Army Tactical Missile System) mit einer Reichweite bis zu 300 Kilometern. Die politische und militärische Führung der Ukraine glaubt jetzt also, stark genug zu sein, um in die Offensive gehen zu können und Russland direkt angreifen zu können. Wobei aus Moskauer Sicht auch die Krim als russisches Territorium gilt sowie nun auch die vier neuen Verwaltungsbezirke, weshalb ein ukrainischer Versuch, diese Gebiete zurückzuerobern, als Angriff auf Russland gewertet würde.

In seiner Rede zur Annexion der vier von Russland beanspruchten Gebiete am vergangenen Freitag hat Putin noch einmal Verhandlungen angeboten. Selenskyj hat das sofort abgelehnt. Zugleich hat er auf die russische Teilmobilmachung mit einem Antrag auf eine schnelle Aufnahme in die NATO reagiert. Er begründete dies damit, dass die Zusammenarbeit mit der NATO funktioniere: „Wir vertrauen einander, wir helfen einander, wir verteidigen einander … Faktisch haben wir den Weg in die NATO schon beschritten.“ Im Grunde eine Bestätigung der russischen Vorwürfe.

Wie gefährlich ist die Lage?

Fakt ist: Die Eskalationsschraube hat sich in den letzten Tagen sehr stark weitergedreht. Ich kann nicht erkennen, dass irgendjemand versucht, diese Eskalation zu durchbrechen. In deutschen Medien hören wir viel darüber, welche Einsatzarten Russland wählen könnte. Wie wenig Sachverstand dabei im Spiel ist, sieht man, wenn von „lediglich taktischen Nuklearwaffen“ oder „Gefechtsfeldwaffen“ gesprochen wird, ganz so, als sei dies ein beherrschbares Risiko. Die Reichweite der Trägersysteme, wodurch taktische Nuklearwaffen definiert werden, sagt nichts über die Sprengkraft der Gefechtsköpfe aus, die bis zu 100 Kilotonnen, also das Zehnfache einer Hiroshima-Bombe, erreichen können. Die entscheidende Frage ist, ob die russische Führung der Überzeugung ist, dass ein Nuklearkrieg auf Europa begrenzt werden kann. Der Einsatz auch nur einer einzigen Nuklearwaffe würde aber auf jeden Fall die Natur des Krieges völlig verändern.

Der Westen hat der Ukraine bislang lediglich Defensivwaffen geliefert. Ist das Vertrauen in die Ukrainer jenseits aller verbalen Unterstützung begrenzt?

Das ist denkbar. Die Ukrainer haben ja gezeigt, dass sie – nachdem sie sich anfangs tapfer verteidigten und gegen die Erwartung fast aller Beobachter ihr Land halten konnten – nur sehr schwer in ihren Handlungen eingrenzbar sind. Und so gibt es in den Vereinigten Staaten durchaus erhebliche Bedenken dagegen, den Ukrainern Waffensysteme wie weitreichende Marschflugkörper oder den amerikanischen Abrams-Panzer zu liefern. Präsident Biden hat mehrfach erklärt, dass es keine Lieferung von Waffen an die Ukraine geben werde, durch die der Krieg nuklear werden könnte. Und er hat früh, am 31. Mai, in einem Artikel in der „New York Times“ zurecht gesagt: „Dieser Krieg kann nur durch Diplomatie beendet werden.“

Aber die amerikanische Politik ist in dieser Hinsicht widersprüchlich. So haben Vertreter der USA nicht nur, wie wir jetzt wissen, Anfang April mit den Briten verhindert, dass es zu einer friedlichen Lösung des Konflikts kommt, sondern auch wiederholt gesagt, dass wir es den Ukrainern überlassen müssen, wie sie diesen Krieg zu Ende bringen, denn schließlich sind sie ja die Leidtragenden.

Was mir fehlt ist eine klare westliche Strategie, die das Ziel hat, erstens eine geographische Ausweitung dieses Krieges auf NATO-Territorium zu verhindern, zweitens eine nukleare Eskalation zu verhindern und drittens zu einer Friedenslösung beizutragen, die sowohl die Sicherheit der Ukraine gewährleistet als auch die Voraussetzung schafft für eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in der alle europäischen Staaten – einschließlich der Ukraine und Russlands – ihren Platz haben. Stattdessen hören wir immer nur Forderungen nach „härteren Maßnahmen“, selbst wenn diese, wie die Wirtschaftssanktionen, uns mehr treffen als Russland.

Aber wer könnte eine solche Strategie entwerfen?

Hier sehe ich insbesondere die europäische und konkret die deutsche Politik in der Pflicht. Dieser Krieg findet ja nicht in Kalifornien statt oder in Texas, sondern in Europa. Und das Risiko, dass er auch auf Deutschland oder Polen oder die baltischen Staaten übergreift, ist sehr real. Die Sabotageakte gegen Nord Stream belegen dies mehr als deutlich. Also ist es doch in unserem Interesse, diesen Krieg zu einem vernünftigen Ende zu bringen. Vernunft ist hier das entscheidende Stichwort.

Deutschland kann wahrscheinlich nicht direkt vermitteln, weil es durch seine Unterstützung der Ukraine bereits zu sehr in den Krieg involviert ist. Aber Deutschland kann konstruktiv an einer Strategie der NATO und auch der EU mitwirken. Als in den 1970er und frühen 1980er Jahren die USA und die UdSSR über die Abrüstung strategischer Nuklearwaffen verhandelt haben, blieben die für Europa bedrohlichen Mittelstreckenwaffen zunächst außen vor, was die Sowjetunion für eine gewaltige Aufrüstung nutzte. Helmut Schmidt hat damals mit dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing und dem britischen Premierminister James Callaghan ein gemeinsames Handeln der Europäer verabredet und so den US-Präsidenten Jimmy Carter dazu bewogen, diese Gefahr für Europa nicht unberücksichtigt zu lassen.

So etwas würde ich auch von dem derzeitigen Bundeskanzler erwarten, dass er sich zumindest mit Präsident Macron abstimmt, der ja in vielerlei Hinsicht ebenso zurückhaltend wie Deutschland zu diesem Krieg agiert. Zusammen könnten sie eine gemeinsame Strategie entwickeln und so den US-Präsidenten dazu bewegen, auch die Interessen der Europäer stärker zu berücksichtigen.

Letztendlich ist für die Gesamtstrategie des Westens der Wille Washingtons maßgeblich. Russland und die Ukraine könnten zwar durchaus einen Waffenstillstand verhandeln, eine langfristige Friedensvereinbarung auf der Grundlage eines Interessenausgleichs wird es jedoch nur zwischen den beiden Hauptakteuren in diesem Krieg geben – zwischen Russland und den USA. Es ist doch ganz offensichtlich, dass es um geostrategische Ziele geht, um die Rivalität der großen Machtblöcke aus China und Russland auf der einen Seite sowie den Vereinigten Staaten und Europa auf der anderen.

Die von Ihnen geforderte deutsche Außenpolitik hat sich bislang jedoch wenig konstruktiv hervorgetan. Die zuständige Ministerin Baerbock zum Beispiel hat mehrfach die russische Führung scharf angegriffen und sich dann beschwert, wenn ihr Kollege Lawrow nicht mit ihr sprechen wollte. Konkrete Friedensinitiativen von ihr gab es keine.

Richtig. Zwei Dinge sind an der deutschen Außenpolitik vor allem zu kritisieren. Das eine ist die Antriebslosigkeit zur Überwindung dieses Krieges und das andere die wiederholten Drohungen gegen Russland, und zwar nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die russische Bevölkerung. Wenn Baerbock sagt, auch die Bevölkerung treffen zu wollen, dann wird eine Hürde aufgebaut für viele Jahre, die wir kaum überwinden können. Egon Bahr hat einmal gesagt: „Für die Sicherheit Europas sind die Vereinigten Staaten unverzichtbar. Aber die Sowjetunion“, an deren Stelle jetzt Russland steht, „ist unverrückbar“. Unabhängig vom militärischen Ausgang des Krieges wird Russland auch in Zukunft unser Nachbar bleiben. Und wir müssen versuchen, zu einem Modus Vivendi zu kommen – ganz egal, wie stark man jetzt auch auf eine Dämonisierung Putins setzt.

Dämonisierung ist ein wichtiges Stichwort. Was an der Haltung des Westens zum Ukrainekrieg auffällt ist eine starke Moralisierung. Ist – bei allem Verständnis für das Entsetzen über den russischen Angriffskrieg und das Sterben tausender ukrainischer Zivilisten – diese Moralisierung ein Hindernis auf dem Weg zu einem Frieden?

Durchaus. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir es in diesem Konflikt mit drei parallelen Ereignissen zu tun haben. Da ist erstens der heiße konventionelle Krieg, ausgelöst durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln und auch nichts zu verteidigen. Das zweite Ereignis ist der Wirtschaftskrieg, der vom Westen unter dem Begriff „Sanktionen“ als Reaktion auf den ersten Konflikt gegen Russland begonnen wurde.

Und der dritte „Layer“ ist der Informationskrieg, der wie bei jedem Krieg auch diesmal geführt wird. Russland versucht, seinen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen – mit Verweis auf die historische Einheit von Russen und Ukrainern sowie mit Verweis auf die Entwicklungen, die aus seiner Sicht zu diesem Krieg geführt haben. Auf der anderen Seite stehen die Vereinigten Staaten, die nicht nur versuchen, die Russen in der Ukraine zurückzudrängen, sondern auch die Europäer zur Geschlossenheit zu bringen gegenüber Russland. Diese Geschlossenheit ist größer, wenn der Gegner so dämonisiert wird, dass sich jegliche abweichende Meinung von selbst verbietet.

Was in diesem Informationskrieg zu kurz kommt ist das Bewusstsein, dass er von allen Beteiligten geführt wird. Da fast alle Berichte über die Ukraine immer auch von Moralin getränkt sind, sind wir kaum noch in der Lage, die wirkliche Entwicklung nüchtern zu beurteilen. Moral ist jedoch in der Außen- und Sicherheitspolitik kein guter Ratgeber. Wenn wir nur noch mit moralisch sauberen Akteuren sprechen wollten, dürften wir nicht mehr mit Aserbaidschan reden, das gerade Armenien angegriffen und dabei schreckliche Kriegsverbrechen begangen hat. Dann dürften wir auch nicht mit Saudi-Arabien reden, das seit Jahren am Krieg im Jemen beteiligt ist, in dem viele Hunderttausend Menschen getötet wurden, darunter – wie ich gerade gelesen habe – rund 80.000 Kinder! Ich kann bei allem Erschrecken über den Krieg nur zu größerem Realismus raten und grundsätzlich zu mehr Rationalität in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Worauf wir noch nicht zu sprechen gekommen sind, ist die Sabotage gegen Nord Stream. Die Sprengung der Gasleitungen ist nicht nur der erste Kriegsakt außerhalb der Ukraine, sondern auch der erste, von dem Deutschland als Miteigentümer unmittelbar betroffen ist. Was bedeutet das für den weiteren Verlauf dieses Krieges?

Das hängt wesentlich davon ab, wer den Sabotageakt verübt hat. Auch wenn die Frage, wem der Vorfall am meisten nützt, in der Regel ein guter Indikator ist, können wir die Verantwortlichen bisher nicht mit letzter Bestimmtheit benennen. Und deshalb möchte ich hier auch nicht spekulieren. Doch grundsätzlich bedeutet ein solcher Vorfall natürlich eine Ausweitung des Ukrainekrieges.

Ihre in diesem Gespräch geäußerten Gedanken schwankten zwischen einer großen Skepsis – etwa mit Blick auf eine atomare Eskalation – und einer gewissen Zuversicht, falls Putin die Annexion von vier ukrainischen Verwaltungsgebieten dazu nutzen sollte zu sagen, dass er seine Kriegsziele erreicht hat und seine „militärische Spezialoperation“ für beendet erklärt. Was halten Sie für das wahrscheinlichere Szenario in den nächsten Wochen?

Das ist schwer zu beantworten. Allein schon, weil alle Kriegsparteien seit dem 24. Februar ihre Auffassungen zum Krieg und zu den Zielen, die sie erreichen wollen, mehrfach geändert haben. Allein die Frage, ob die Ukraine den Krieg gewinnen muss, erfordert eine starke Differenzierung. Einen Krieg gewinnt man, wenn man die politischen Ziele erreicht, deretwegen man diesen Krieg geführt hat. Dieses Ziel wird jedoch von keinem der Beteiligten erreicht werden: weder von Russland, das im Gegensatz zu den Geländegewinnen im Süden hinnehmen musste, dass Finnland und Schweden Mitglieder der NATO geworden sind, noch die Vereinigten Staaten, denen es bei aller Schwächung Russlands nicht gelingen wird, Moskau als geostrategischen Rivalen so weit zu schwächen, dass es künftig keine Rolle mehr in der Weltpolitik spielt. Russland ist, wenn Sie sich die G20 und die Gruppe der BRICS-Staaten (mit Brasilien, Indien, China und Südafrika) ansehen, bei Weitem nicht so isoliert, wie dies im Westen dargestellt wird. Auch die Ukraine wird ihre Ziele, vor allem die NATO-Mitgliedschaft und das Verhindern einer größeren Autonomie für den Donbass, nicht erreichen.

Es muss also darauf hinauslaufen, einen klugen Kompromiss zu finden, mit dem alle Seiten einigermaßen leben können. Es gibt Beispiele, die zeigen, dass eine Kompromisslösung durchaus Bestand haben kann. Im Koreakrieg hat auch keine Seite ihre politischen Ziele erreicht. Militärisch gab es ein Patt am 38. Breitengrad. Ein anderes Beispiel ist Zypern. Der Nordteil der Insel ist seit 1974 von der Türkei militärisch besetzt. Die „Türkische Republik Nordzypern“ wird nur von der Türkei anerkannt. Die beide Seiten trennende Pufferzone wird von einer Friedenstruppe der Vereinten Nationen überwacht. In beiden Fällen weiß man, dass es irgendwann eine politische Lösung geben muss, aber solange wie es sie nicht gibt, sorgt die Waffenruhe dafür, dass es dort keine Kampfhandlungen mehr gibt.

Die Ukraine braucht die russische Annexion von Teilen ihres Staatsgebietes nicht anzuerkennen; der Westen wird es auch nicht tun. Wie die Lage in zehn oder 20 Jahren aussieht, weiß niemand. Erst einmal sollte es das vorrangige Ziel aller Beteiligten sein, das unsinnige Sterben unschuldiger Menschen zu beenden.