Einheitsfreude und Trennungsschmerz – 100 Jahre Kärntner Volksabstimmung, 100 Jahre Teilung Tirols – erster Teil

Autorius: Sven Reuth Šaltinis: https://www.compact-online.de/... 2020-10-10 19:50:00, skaitė 822, komentavo 0

Einheitsfreude und Trennungsschmerz – 100 Jahre Kärntner Volksabstimmung, 100 Jahre Teilung Tirols – erster Teil

Der Oktober 2020 zwingt  zur Vergewisserung  bedeutender  Ereignisse, die auf das engste miteinander korrespondieren. Wenngleich nicht auf den ersten Blick zu erkennen, so besteht zwischen der Erinnerung an 30 Jahre Vereinigung der beiden deutschen Rumpfstaaten BRD und DDR, an 100 Jahre Kelsen-Verfassung für Österreich, an 100 Jahre Volksabstimmung in Kärnten, an die territoriale Kastration Ungarns sowie an die formelle Annexion des südlichen Teils des einstigen Kronlandes Tirol durch Italien eine – wenn auch kontrastive, so doch – innere Verbindung. Wenn Sie nachvollziehen wollen, wie sehr der Versailler Vertrag auch mit Blick auf das Deutsche Reich das Entstehen einer stabilen Nachkriegsordnung verunmöglichte, dann greifen Sie zur fünften Ausgabe unseres COMPACT-Geschichtsheftes Versailler Vertrag – Der Pakt, der Hitler an die Macht brachte, das Sie HIER bestellen können!

_von Reynke de Vos

Die Wiedervereinigung Deutschlands war die glückliche Antwort auf die seit 1945 stets im politischen Raum stehende „Deutsche Frage“. Möglich wurde die deutsche Einheit durch Erosion und Auflösung des Ostblocks zufolge der Implosion des sowjetkommunistisch-moskowitischen sowie des titoistisch-balkankommunistischen Herrschaftssystems und der zwischen Usedom (Mecklenburg-Vorpommern) und Eichsfeld (Thüringen) raumgreifenden „Abstimmung mit den Füßen“

Freude in Kärnten

Die von dem bedeutenden Völker- und Staatsrechtler Hans Kelsen entworfene Bundesverfassung, auf die Österreich(er) zurecht stolz ist (sind), manifestierte die Ablösung des über Jahrhunderte bestimmenden monarchischen Herrschaftsprinzips durch den republikanisch-demokratischen Rechtsstaat. Sie markiert(e) damit aber auch die Reduktion des einstigen Staatsgebiets infolge der für die Verlierer des Ersten Weltkriegs in den 1919/1920 unterzeichneten Pariser „Vorortverträgen“ von den Siegermächten, insbesondere von Frankreich, „friedensvertraglich“ diktierten territorialen und materiellen Verluste.

Kärnten, wo die Siegermächte auf amerikanischen Druck hin am 10. Oktober 1920 eine Volksabstimmung erlaubt hatten, entging – maßgeblich zufolge des mehrheitlichen Votums der slowenischen Minderheit Südkärntens für Verbleib bei Österreich – der vom jugoslawischen SHS-Staat (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) verlangten Landesteilung. Ohne Volksabstimmung wurden hingegen per Vertrag von Saint-Germain-en-Laye (1919) das Mießtal dem SHS-Staat sowie das Kanaltal Italien übereignet.

Entsetzen in Tirol

Von dem, was nach kriegsbedingter Auflösung des vormaligen österreichisch-ungarischen Imperiums durch die Herausbildung neuer Nationalstaaten an territorialer Substanz für die zunächst an ihrer Existenzfähigkeit zweifelnde Republik (Deutsch-)Österreich verblieb, war die erzwungene Abtretung Südtirols (mitsamt Welschtirol/Trentino) an Italien zweifellos das für das kollektive Bewusstsein der ohnedies notleidenden Bevölkerung einschneidendste Ereignis.

Das Zerreißen Tirols, die formelle Annexion des südlichen Landesteils am 10. Oktober 1920, kontrapunktorisch und deklarativ just am Tag der Kärntner Volksabstimmung vollzogen, ist und bleibt, wie der in nämlichem Jahr am 4. Juni im Friedensdiktat von Trianon bestimmte Verlust Ungarns  von zwei Dritteln (sic!) des Territoriums, eine Wunde, die nicht verheilen kann – denn damit sind nicht nur Menschen- und Selbstbestimmungsrechte verletzt worden, sondern Völker und Seelen.

„Großer Appetit, schlechte Zähne“

Bella Italia, das von alters her die Sehnsüchte sonnenhungriger nördlicher Hemisphärenbewohner  beflügelnde „Land, wo die Zitronen blühen“ (Goethe), muss sich all seinen heutigen beschönigenden und begütigenden politischen Parolen zum Trotz gefallen lassen, nicht allein von historisch bewussten Betrachtern der „Südtirol-Causa“ als hinterhältiger, sich verstellender politischer Akteur eingestuft zu werden.

Schon Bismarck ließ mit seiner Bemerkung nach der quasi parallel vollzogenen Einigung Italiens, die ja erst mit der Presa di Roma, der Einnahme der Ewigen Stadt 1870, vollendet war, und der maßgeblich von ihm herbeigeführten Reichsgründung 1870/71 aufhorchen, im Gegensatz zum „satten“ (saturierten) preußisch-deutschen Kaiserreich sei das sardinisch-toskanisch-sizilianische Königreich Italien ein „hungriger“ Staat. „Italien hat einen großen Appetit, aber sehr schlechte Zähne“, bemerkte der Reichskanzler über seinen damaligen Verbündeten.

Südtirol, ein Opfer des Faschismus

Vielfach lieferte Italien hernach Beweise für Bismarcks abfälliges Diktum. Um seinen nationalromantisch verbrämten, quasi der Idee des Imperium Romanum verschriebenen und von sacro egoismo („heiligem Eigennutz“) getriebenen „Hunger“ nach territorialer Ausweitung am adriatischen Gegenufer, in Nord(ost)afrika sowie nicht zuletzt entlang der alpinen Wasserscheide zu stillen und stets zielgerichtet auf „Siegesspur“ und Sieger-Seite zu sein, wechselte es nach Belieben die Fronten.

Südtirol war das  kontinentale „Tortenstück“ dieses dem Macht- und Landhunger geschuldeten Seitenwechsels von 1915. Das Gebiet zwischen dem heutigen Salurn und dem Brenner-Pass rundete das Risorgimento-Begehr Welschtirol / Trentino,  zuvor Bestandteil Gesamttirols, nach Norden hin bis zur stets von den italienischen Nationalisten eingeforderten Grenzziehung an der Wasserscheide ab.

Dafür hatte die Königlich Geographische Gesellschaft  das geophysikalische Rüstzeug geliefert, der auch jener Deutschenhasser Ettore Tolomei angehörte, der mit der von faschistischen Gewalttaten auch in Bozen begleiteten Machtübernahme ab 1922 Mussolini als Entnationalisierungsfanatiker im südlichen Tirol (kultur)geschichtsfälschend dienstbar war.

„Unser Leben wird Euer Tod sein“

Nichts von dem, was der einstige Ministerpräsident Luigi Luzzatti nach der Unterzeichnung des Friedensdiktats von St.Germain (10. September 1919) im römischen Parlament sagte – „Es muß eine Ehrenpflicht für die Regierung und für das Parlament sein, den Deutschen, die nur wegen der absoluten Notwendigkeit,  unsere Grenzen verteidigen zu können, angegliedert wurden, ihre autonomen Einrichtungen zu bewilligen“ – wurde zugestanden. Im Gegenteil: selbst die trientinischen (Welsch-)Tiroler Reichsratsabgeordneten  Enrico Conci und Alcide DeGasperi – er sollte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als den Südtirolern wiederum die Selbstbestimmung verweigert wurde, abermals eine verhängnisvolle Rolle spielen – schlugen Töne an, welche sich nicht im geringsten von jenen der Schwarzhemden unterschieden.

So schrieb DeGasperi in einem Artikel unter dem Titel Tirolo addio, der am 4.12.1918 in der von ihm herausgegebenen Zeitung Il Nuovo Trentino erschien: „Tiroler, euer Leben war unser Tod, nun wird unser Leben euer Tod sein.“