Autorius: Online-Autor Šaltinis: https://www.compact-online.de/... 2020-09-04 13:16:00, skaitė 694, komentavo 0
Eine Nachbetrachtung zur historischen Freiheits-Demo am 29. August in Berlin.
von Simon Niederleig
„Wo warst du, als die Mauer fiel?“ – In meinen westdeutschen Ohren klingt diese Frage so harmlos, wie die westdeutschen Antworten darauf: In Bielefeld, im Urlaub auf den Seychellen, in der Schule, vor dem Fernseher und so weiter. Ein Freund aus Ostdeutschland sagte mir, dass diese Frage für ihn einen ganz anderen Subtext habe: Warst du bei der SED oder im Demokratischen Aufbruch? Bei der Stasi oder im Stasi-Knast? Warst du bei den Montags-Demonstrationen, daheim auf dem Sofa oder standest du mit dem Gewehr im Anschlag in einer Seitenstraße, wartend auf den Befehl zur gewaltsamen Räumung? – Niemand steht gerne auf der falschen Seite der Geschichte.
Etwa nach 10 Jahren „asymmetrischer Demobilisierung“ dachte man im Merkel-Land, dass es so etwas wie eine falsche Seite der Geschichte gar nicht mehr gäbe. Demokratie sei eine Selbstverständlichkeit und über alle wesentlichen Fragen sei sich die „Einheit der Demokraten“ im Großen und Ganzen einig. Leichten Disput gab es nur noch um Nachkommastellen bei Steuererhöhungen oder bei der Bemessung der Sozialhilfe. Über alle wesentlichen Fragen und die grundsätzliche Richtung bestand aber Konsens. Schleichend begann so das Zeitalter der Alternativlosigkeit:
Zunächst bei der Energiewende, dann bei der Eurorettung, bei der Migrationspolitik sowieso und jetzt bei Covid-19. Für alle, die nur leiseste Zweifel anmeldeten, war ihr zugewiesener Platz in der Geschichte fortan klar – je nach Thema sind sie: Umweltsäue, Europahasser, Dunkeldeutsche, Menschenfeinde, Nazis, Rassisten, Covidioten, asoziale Gesundheitsgefährder. An den Tankstellen war „Normal“ bereits abgeschafft worden, alles was blieb war Super. Und in den Parlamenten gab es kein Rechts mehr nur noch Links. Links war die eine Seite, die von der Demokratie übrig blieb. Eine halbe Demokratie, die sich für ganz verkaufte.
Wenige Tage nach dem Mauerfall ist Betrieb auf dem Tor. Foto: Lear 21, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons
Inmitten dieser halbierten Demokratie bot sich auf der Freiheitsdemo ein bunter Basar der demokratischen Pluralität; erzwungen durch einige wenige entschlossene Bürger und ein kleines Heer von Anwälten. Es war das Modell einer meinungstoleranten Demokratie in der Nussschale einer Tagesveranstaltung. Alles, was in den Mainstreammedien seit Jahren völlig verschwunden war und was auch in den sozialen Netzwerken zunehmend in den Shadowban gedrängt wurde, trat an diesem Tag auf der Straße ans Licht. Viele Themen, fernab von Corona, wurden dort zu Gehör gebracht und zwischen den Teilnehmern offen diskutiert: Atomwaffen, G5-Strahlung, Eurorettung, Lebensschutz, Staatsverschuldung, Zwangsgebühren-TV, Migrationskrise, Friedensvertrag, direkte Demokratie, Lobbyismus sowie auch die Forderung nach der Verwirklichung des Artikel 146 unseres Grundgesetzes.
Trotz (oder gerade wegen?) dieser weiten Themenstreuung war von den Parteien des Bundestages so gut wie nichts zu sehen. Nur die AfD war erkennbar auf der Straße des 17. Juni an der Seite der Demonstranten präsent. Es gab auch einen Redner, der sich als Mitglied der Grünen outete, der jedoch an seiner Partei kein gutes Haar ließ. Daneben warben zwei kleine Parteineugründungen um Mitglieder, deren Kernanliegen den Zustand unserer Demokratie zu betreffen schienen. Man sah Demonstranten bei buddhistischen Atemübungen, andere beteten das Vater-Unser, sangen Hallejuhja oder Pop-Songs, um die Zeit während der Polizeiblockade zu überbrücken. Wenige Schritte weiter riefen Atheisten zur Anbetung des Spaghettimonsters auf.
Herz- und Friedenssymbole, Regenbogenfahnen waren allgegenwärtig, ebenso wie Reichsfahnen, Friedenstauben, Peace-Zeichen, Schwarz-Rot-Gold und Staufenbergfahnen; alles bunt gemischt, einträchtig zusammenstehend und debattierend. Die Demonstranten sahen aus „wie die Leute bei LIDL in der Schlange“, wie jemand treffend twitterte; also wie Herr Jedermann und seine Frau. Was man dort nicht sah, war Gewalt (außer durch Teile der Polizei), die verbotene Reichskriegsflagge, die „Antifa“ und auch keine Gewerkschaften. Was alle Demonstranten ganz offensichtlich einte, war der Wunsch nach Offenheit, Austausch, Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung und nach echter Demokratie.
Die Rezeption in der deutschen Mainstreampresse war völlig anders. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fokussierte man sich dort auf das abseitige Geschehen am Reichstag. Bei diesem Vorfall wird aber erst noch zu untersuchen sein, wer die wirklichen Drahtzieher waren, und warum ausgerechnet der Reichstag, trotz entsprechender Ankündigungen in der Presse, so unzureichend gesichert war. Die wirkliche Hauptdemonstration zu beschreiben und zu analysieren, traute sich dagegen kaum ein Mainstreamjournalist zu. Warum?
Wie man hier meinem Bericht entnehmen kann, war das Geschehen sehr komplex, politisch divers, teilweise geradezu widersprüchlich. Nicht nur mit dem simplen Nazi-Narrativ ist ihm nicht beizukommen, es lässt sich allgemein kaum über irgendeinen Kamm scheren. Es ist die Pluralität echter gelebter Demokratie. Eben diese Pluralität überfordert aber auch viele Menschen, die eben fürchten, in dem Dickicht aus Fakten, Themen, Meinungen die „falschen“ Antworten zu geben. Sie wollen nicht auf der falschen Seite der Gesellschaft oder der Geschichte landen.
Ohne die vorverdaute Meinung, wie sie uns vom Staatsfernsehen seit Jahrzehnten präsentiert wurde, fühlen sich viele Menschen heute orientierungslos. Sie haben Angst alleine zu stehen. Und sie scheuen den Aufwand, den eine selbstständige Meinungsbildung bedeutet. Es ist eben anstrengend, wenn man sich nicht mehr auf den „Faktenchecker“ von ARD und ZDF verlassen kann. Man muss dann die Mühsal eigener Quellenvergleiche auf sich nehmen muss, um sein eigener Faktenchecker zu sein. Für manch einen stellen diese Forderungen, die eine echte freie demokratische Meinungsbildung an den Einzelnen stellt, eine echte Überforderung dar.
Überforderung aber, das weiß jeder Lehrer, führt zu Wut. Deshalb wohl ist auch die banale Sachfrage über das Für und Wider der Corona-Maßnahmen derart aufgeheizt. Die meisten Kritiker der Corona-Maßnahmen-Gegner kommen ohne Beleidigungen wie „Aluhüte“, „Deppen“, „Covidioten“, „Schwurbler“ und der gleichen kaum aus. Wobei der neue Begriff „Schwurbler“ hier besonders aufschlussreich ist. Er deutet genau darauf hin, dass derjenige, der ihn verwendet, von der Komplexität, Unordnung oder auch der Unschärfe einer wirklich freien Debatte überfordert ist. Es sind dies Menschen, die sich nach dem einen starken Führer (m/w/d) und „klaren Ansagen“ sehnen.
Es sind die Zeitgenossen, die mindestens eine Maischberger, eine Anne Will oder einen Oliver Welke brauchen, die ihnen wörtlich oder übers Minenspiel verraten, was sie von dem ganzen Zeug zu halten haben, dass sie selbst im Grunde nicht verstehen. Die große Frage für die Zukunft wird sein: Wie können wir auch diese Mitbürger ermutigen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen?
Abschließend sei gesagt: Die Veranstalter von Querdenken-711 haben Wunderbares geschaffen, weit mehr als einen Protest gegen die Coronamaßnahmen der Regierung! Sie haben eine Erinnerung wiederbelebt, wie eine lebendige Demokratie mit offenen, angstfreien Diskursen aussehen kann. Wie Menschen aus unterschiedlichsten Lagern frei miteinander reden können, ohne sich als „Rechte“, „Linke“, „Nazis“ und „Idioten“ zu beschimpfen, ohne sich spalten und gegeneinander aufhetzen zu lassen. Allein für die Wiederbelebung dieses Traumes, gehört den Veranstaltern höchster Dank ausgesprochen! Mögen Sie diese Kostbarkeit bewahren, sorgsamst behüten und gegen diejenigen verteidigen, die uns spalten wollen. Es sind all jene Profiteure einer halbierten Demokratie, für die ein wirklich mündiges Volk kein Traum, sondern ihr persönlicher Alptraum ist. Querdenken-711 hat einen Bann gebrochen und ein Tor geöffnet. Hindurchgehen müssen wir selbst. Echte Demokratie fordert uns persönlich. Wo warst du als das Tor aufging?