Autorius: Von Andrej Iwanowski Šaltinis: https://de.sputniknews.com/kom... 2020-04-20 17:04:00, skaitė 796, komentavo 0
„Die Kanzlerin hat, verdammt noch mal, Recht!“ rief der Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann aus Braunschweig. Der Experte, der zu seinem Auftritt in der prominenten Polit-Talkshow das Outfit eines Deep-Purple-Gitarristen gewählt hatte, warnte vor allzu kühnen Lockerungen. Würden die Lockerungen über ein gewisses Maß hinausgehen, kämen wir „wieder in ein exponentielles Wachstum“ der Infektionszahlen hinein. Das wäre aber fatal. Der Immunologe sei bereits jetzt sicher, dass Deutschland infolge der Osterferien wieder einen Anstieg der traurigen Zahlen erleben werde. Das schöne Wetter und die ersten zaghaften optimistischen Trends hätten viele Menschen zu einem viel zu lockeren Verhalten verführt. “Schon durch die angekündigte Lockerung hat sich das Bewusstsein in der Bevölkerung massiv verändert“, behauptete der Professor, wobei dessen knallrote Hose, hippe Lederjacke und Dutt-Frisur manifestieren dürften, dass sich auch sein Bewusstsein bereits auf lockerere Zeiten eingestellt hat.
„Schuld“ daran war sicherlich auch Gesundheitsminister Jens Spahn mit seiner inzwischen legendären Verkündung, das Virus sei „beherrschbar“ und „immer beherrschbarer“ geworden. „Das ist zwar eine unsinnige Formulierung, aber wir haben's dankbar zur Kenntnis genommen und sind raus ins Grüne – massenhaft“, konstatierte die „Frankfurter Rundschau“.
„Wir können versuchen, das Virus auszutrocknen“, schlug Meyer-Hermann vor – mit einer radikaleren Reduzierung von Kontakten, mit massenhaften Tests und der digitalen Überwachung von Kontakten mit Infizierten. Dies wäre der kürzeste Weg „zu alter Normalität“.
Gegen Mitte der Sendung kam es zu einem harten Clinch zwischen zwei weiteren Michaels – Sachsens Landeschef Michael Kretschmer und dem Wirtschaftsforscher Michael Hüther, der per Livestream aus Frankfurt zugeschaltet wurde. Anfangs wetteifern zwar die beiden Namensvetter in Zurückhaltungs-Mahnungen. “Wir sind noch in der Eindämmungsphase, wir treten in eine schrittweise Öffnungsphase, die noch mindestens bis zum Sommer dauern wird“, so Hüther. „Und wir brauchen danach eine Stabilisierungsphase.“ Kretschmer: „Wir werden auf jeden Fall eine Zunahme an Infektionen erleben und die Frage wird sein, ob sie beherrschbar ist oder nicht." Eine Normalisierung sei nicht denkbar, Kretschmer, solange kein Impfstoff zur Verfügung stehe. Die himmelblauen Socken von Sachsens Landeschef, die im Laufe der Sendung mehrmals ziemlich dominant zur Geltung kamen, sollten demnach also nicht in die Irre führen: Die Stimmung des CDU-Politikers ist alles andere als wolkenlos.
Auf einmal setzte sich aber Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, nicht für die notleidenden Unternehmer, was man von ihm in erster Linie erwarten würde, sondern für Schüler und Lehrer ein. Nach seiner Überzeugung hätte man die Schulen viel früher öffnen können. Die Präsenz der Lehrkräfte sei entscheidend, Bildungserfolg hänge mit Kontakt zusammen, es gehe um „Bildungsgerechtigkeit“. In Dänemark etwa, so Hüther, seien die Klassen längst geteilt worden, so dass die Abstandsregeln kein Problem seien. Außerdem ließe sich das Schulprogramm „entschlacken“ und auf das Wesentlichste konzentrieren.
Kretschmer entgegnete frenetisch, der Ökonom verkenne mit seinen „klugen Reden“ die Dramatik der Lage, und verteidigt die in Sachsen beschlossene schrittweise Öffnung der Schulen im Laufe der nächsten Wochen. Mindestens eine halbe Minute lang redeten die beiden Michaels gleichzeitig – Hüther auf dem Livestream-Bildschirm und Kretschmer im Studio. Anne Will schien das zu genießen: Sie strahlte und machte zunächst gar keine Anstalten, dem Durcheinander ein Ende zu setzen.
Den Begriff „neue Normalität“ gebrauchen mittlerweile Kanzlerin Angela Merkel, Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz und Gesundheitsminister Jens Spahn. Gegen Ende der Sendung schaltete Anne Will die Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ein, die erläutern sollte, was der Ausnahmezustand als „neue Normalität“ juristisch bedeuten soll.
Die FDP-Politikerin, die praktisch im Laufe der ganzen Sendung schweigen und zuhören musste, durfte nun fast vier Minuten lang allein reden. Und sie nutzte diese Zeit, um mit energischer Gestik und in eloquent zusammengefügten Passagen nahe zu legen, dass „Ausnahmezustand“ und „Normalität“ in einer Demokratie nur als Antonyme verstanden werden dürfen.
„Ausnahmezustand heißt, man muss alles tun, ihn zu überwinden, aber nicht den Ausnahmezustand zum Normalzustand machen“, postulierte sie. „Unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsbeschränkung geht das sowieso nicht.“
Je länger der jetzige Eingriff in die Grundrechte andauere, desto konkretere Begründungen für diese oder jede Maßnahmen würden die Gerichte haben wollen.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der in den letzten Tagen nahezu täglich in dieser oder jener TV-Sendung zu erleben war, kam bei Anne Will ebenfalls eher kurz zu Wort. Eine Verantwortung für den Begriff „neue Normalität“ wies er jedenfalls von sich: „Ich habe den Begriff nicht erfunden und wir als Bundesregierung haben diesen Begriff nicht beschlossen… Was wir wollen, ist eine Rückkehr zur Normalität.“ Sicherlich meinte er die gute alte Normalität. Wobei mittlerweile nicht nur aus den Experten-, sondern auch aus den Regierungskreisen immer öfter zu vernehmen war: Die „alte Normalität“, die wir vor Corona kannten, wird es nie mehr geben.
Bei all den TV-Terminen, die der Minister in den zurückliegenden Tagen wahrgenommen hatte, muss er zu wenig Lob für die Regierung gehört haben. Deshalb sah sich Altmaier wohl gezwungen, dieses Versäumnis selbst zu beseitigen und die letzte politische TV-Show der Woche mit folgender Feststellung zu beenden: „Es mag Mängel geben, vielleicht ist das eine oder andere falsch gemacht worden, aber – Deutschland ist mit dieser Pandemie besser zurecht gekommen als fast alle anderen Länder in Europa und weltweit. Das ist eine Errungenschaft und das möchte ich auf keinen Fall gefährden.“