Keine neoliberale Globalisierung nach Corona: Deutsche Kenner geben russischem „Kritikaster“ Kontra

Autorius: Von Liudmila Kotlyarova Šaltinis: https://de.sputniknews.com/pol... 2020-03-20 05:35:00, skaitė 1830, komentavo 0

Keine neoliberale Globalisierung nach Corona: Deutsche Kenner geben russischem „Kritikaster“ Kontra

In der Corona-Krise geht bei manchen Politologen der Glaube an das sonst „so gute“ EU-Wertesystem offenbar verloren. Hat die EU diesen „Lackmustest“ nicht bestanden? So kritisierte übrigens der renommierte russische Journalist Alexander Baunov, Brüssel hätte die Italiener nicht im Stich lassen dürfen. Alles Demagogie, kontern deutsche Kollegen.

Dabei geht es den Befürwortern der „unter normalen Umständen“ vermeintlich so gut funktionierenden EU nicht unbedingt um die plötzlich dichten Innengrenzen, auch wenn sich die Polen mit der schnellen Grenzkontrolle besonders schwertun. Ist die EU „in den wenigen Tagen“ plötzlich zusammengebrochen?

„Wo ist plötzlich dieser Raum, der auf gemeinsamen humanistischen Werten aufgebaut ist?“, provozierte Baunov, der von deutschen Medien gefeierte Chefredakteur der liberalen Moskauer Denkfabrik Carnegie-Zentrum und ehemalige Diplomat, vor einigen Tagen auf seiner Facebook-Seite. In ganz Europa werde ja diskutiert, wie viele Krankenhäuser in Norditalien überfüllt seien und dass Ärzte entscheiden müssten, wer leben und wer sterben solle. Ob jemand gehört habe, dass all „diese wunderbaren Nachbarn“ wie Frankreich, Deutschland oder Österreich den Italienern Plätze in ihren Intensivstationen bzw. Beatmungsgeräte oder ihre Ärzte zur Verfügung gestellt hätten, wollte Baunov wissen. Dazu bemängelte er allerdings, dass Brüssel jetzt keine übernationalen Maßnahmen ergreife, sondern die einzelnen EU-Länder selbst entscheiden würden, wie sie der Krise entgegenstehen müssten. Seitdem hat Berlin den Italienern jedoch eine Million Atemschutzmasken versprochen. Brüssel dagegen will der Wirtschaft mit 25 Milliarden Euro helfen.

„Wo ist die allmächtige Brüsseler Bürokratie, die die nationalen Regierungen zertrampelte? <...> Wo ist die EU-Kommission, die nun strikte transnationale Richtlinien erlassen würde?“, fragt Baunov weiter und kommt zu dem Schluss: „Sie ist dort, wo auch das Gemeinsame Europäische Haus, das sich letztendlich als ein Elite-Cottage-Dorf herausstellte, steckengeblieben ist <...>“ Jeder sterbe für sich allein, bewertete seinerseits der Sputnik-Autor Andrej Iwanowski in einem Kommentar - EU würde nur eine Abkürzung für Egoistische Union sein.

Haben Menschen wie Baunov Recht mit ihrem Urteil über die EU? Bei dem erfahrenen Sicherheitsexperten bzw. Spezialisten für deutsch-russische Beziehungen Dr. Siegfried Fischer ruft die Frage wohl nur ein Grinsen hervor.

„Wenn man von der EU glaubt und erwartet, dass sie die Vereinigten Staaten von Europa ist, dann kann man sich natürlich hämisch oder demagogisch an deren Unvollkommenheit abarbeiten“, sagt Fischer gegenüber Sputnik.

Der bisher tragende Konsens der EU ist aus seiner Sicht etwa „Europa so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich“ gewesen. Die Aufgabe deren gleitenden Projektierung bestehe darin, die Harmonisierung staatlicher Unterschiede voranzutreiben, wenn sie denn das Projekt stören sollten. In dieser Hinsicht bezweifelt Fischer, ob die EU jemals auch ohne Corona-Pandemie mehr werde, als „eine never ending story of projects in being“. Für Fischer steht fest: Die Pandemie ist kein Lackmustest, und zwar weder für die EU noch für deren Mitgliedstaaten und auch nicht für China, Russland und die USA.

„Alle heutigen Staatssysteme und Staatenbünde sind nach dem Großen Krieg, der Spanischen Grippe, der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg zu dem geworden, was sie heute sind und ihre Eliten, alle mehr oder weniger Kinder des Nachkriegsneoliberalismus, haben diese Kriege und Krisen nicht am eigenen Leibe erlebt. Sie alle haben keine Erfahrungen, wie man damit umgehen sollte.“

„Macht man sich in Russland über die Qualität beispielsweise des deutschen Gesundheitswesens falsche Vorstellungen?“, zeigt sich seinerseits der linke Publizist Knut Mellenthin (73) erstaunt.

Er weist in einem Sputnik-Gespräch darauf hin, dass allein in den deutschen Krankenhäusern nach Schätzungen der Gesellschaft für Krankenhaushygiene jährlich bis zu 40.000 Menschen durch Keime sterben würden, die sie sich dort erst zugezogen hätten. Mit Blick auf das Coronavirus steht für Mellenthin fest: Nicht nur Italien wird derzeit vom Virus heimgesucht, sondern das Virus bedroht zeitversetzt alle europäischen Länder gleichermaßen - mit Unterschieden durch die unterschiedliche Qualität der nationalen Gesundheitssysteme.

„Es trifft aber schlichtweg nicht zu, dass irgendein EU-Land einen Überfluss an Ärzten, Klinikbetten oder Hilfsmitteln hätte, von denen es bequem etwas abgeben könnte“, so Mellenthin. In deutschen Apotheken und Drogerien könne man ja schon seit zwei bis drei Wochen keine Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken mehr kaufen. Mellenthin bezweifelt auch, dass die EU-Staaten andernfalls nicht bereitwillig zum fairen Teilen bereit wären. Insofern geht der Vorwurf mangelnder Solidarität für seine Begriffe praktisch ins Leere.

Bisher scheint es so, als ob zentralistische Staaten schneller agieren bzw. reagieren könnten. In Berlin ist nun sogar von der Nationalisierung der „wichtigen“ Unternehmen bei Notwendigkeit die Rede - wer hätte sich noch vor ein paar Monaten so etwas vorstellen können? Ob die Resultate solcher Handsteuerung auch besser sein werden, bleibt offen. In einem scheinen sich die beiden Experten einig zu sein: Die Nationalstaaten werden nun an mehr Bedeutung gewinnen.

„Die EU stellt insofern zwar scheinbar eine Abwendung vom Prinzip der Nationalstaatlichkeit dar – was in der Propaganda maßlos hervorgehoben wird -, bewegt sich andererseits aber vollständig in dessen Logik und Kontext, verschärft diesen sogar“, sagt Mellenthin.

„Es wird keine Rückkehr zur neoliberalen Globalisierung geben und damit auch keine Rückkehr zu den Vorpandemiezuständen, weder bei den EU-Mitgliedstaaten noch bei ihrem unvollendeten Gemeinschaftsorganismus“, bekräftigt Fischer. Selbst ein ehemaliger Journalist mit langjähriger Erfahrung, sagt Fischer, seriöse Journalisten und Analytiker würden ständig die Resultate an den verkündeten Maßnahmen und dem aktiven Handeln messen und so auch Schwätzer von Machern unterscheiden.

„Berufsmäßige Kritikaster aber, die sich im Besitz ewiger und einziger Wahrheiten wähnen, werden dagegen jeden Fehler, jede Panne und jede Unvollkommenheit nutzen, um sich selber zu erhöhen und sich als Alles- und Besserwisser darzustellen“, so Fischer.

Allerdings machen sich in Russland offenbar nicht alle liberalen Meinungsmacher Illusionen über das Funktionieren der EU. So schreibt der Außenpolitikexperte Timofei Bordachev zum Thema speziell für die Fachzeitschrift „Rossija v Globalnoj Politike“ (Russland in der globalen Politik)“:  „Die europäische Integration ist keine heilige Kuh, sondern ein Weg zur Stärkung der Souveränität, nichts mehr. Wie jedes andere Instrument wird es dort benötigt, wo die Staaten es sich leisten können. Wenn die wichtigsten Themen auf dem Spiel stehen, kann die Integration abwarten.“ Auch darf laut Bordachev nicht aus dem Auge verloren werden, dass heutzutage die Grundfunktion des Staates bedroht wird, nämlich die Gewährleistung der physischen Sicherheit der Bürger. Es sei also nicht verwunderlich, dass all die Errungenschaften der europäischen Integration plötzlich völlig unwichtig würden.