Autorius: Von Armin Siebert Šaltinis: https://de.sputniknews.com/int... 2020-03-08 12:27:00, skaitė 1355, komentavo 0
- Herr Schur, Sie wohnen bis heute in Biederitz, dem Dorf, in dem Sie vor 89 Jahren geboren wurden. Was bedeutet Heimat für Sie?
- Ich bin DDRler durch und durch. Und vorher, ja, hier bin ich geboren und wurde Mensch unter Bedingungen, die sehr hart waren. Wir waren fünf Kinder. Ich habe noch den Krieg miterlebt. Ich musste barfuß in die Schule gehen. Mein jetziges Haus steht an einer Straße, auf der damals die Panzer gerollt sind. Denen musste wir als Kinder noch Munition hochreichen. Ich habe auch zwei große Bombenangriffe miterlebt - was die jungen Leute, die heute gen rechts driften, gar nicht kennengelernt haben. Wenig schlafen, Angst haben, ständig in den Bunker müssen.
- Nach dem Krieg haben Sie die Hälfte Ihres Lebens in einem Land verbracht, das es heute nicht mehr gibt. Dort haben Sie Ihre größten Erfolge gefeiert. Was sagen Sie zu der Behauptung, dass die DDR ein „Unrechtsstaat“ war?
- Heute in der kapitalistischen Gesellschaft kann man sich das zurechtdrehen, wie man will. Da gehen Historiker und Medien Hand in Hand. Es war doch so: nach einem solch gewaltigen Krieg mit 60 Millionen Toten, den die Deutschen vom Zaune gebrochen haben, hat die DDR versucht, ein anderes Deutschland aufzubauen und einen anderen Menschen zu erziehen. Und so bin ich so geworden, wie ich heute bin. Ich war mit Leib und Seele Bürger der DDR.
- „DDR-Sportler waren ja alle gedopt.“ Nervt Sie so eine Aussage?
- Solche Anwürfe gibt es doch in Bezug auf jeden Bereich des DDR-Lebens, sei es Kultur, Politik oder das Sozialsystem. Was Doping betrifft, in den 1970er Jahren, also lange nach meiner Zeit, hat man in Jena ein Mittel entwickelt, mit dem der Körper die hohen Trainingsbelastungen besser abzubauen konnte - Turinabol. Dieses Mittel ist der Kernvorwurf, dass wir gedopt hätten. Darüber kann man streiten. Fakt ist aber auch, dass man drüben im Westen bereits 1952 in Freiburg mit Dopingmitteln noch aus dem Zweiten Weltkrieg experimentiert hat. Die Grundlagen für Doping wurden also zuerst drüben entwickelt und angewandt.
- In der DDR war die Friedensfahrt – die Tour de France des Ostens - das größte Radsport-Ereignis und vielleicht das größte Sport-Event überhaupt. Woher kam diese Begeisterung?
- Ich war ja vorher Fußballer und Läufer. Als die Friedensfahrt zum ersten Mal stattfand, habe ich noch gar nicht ans Radfahren gedacht. Als ich las - 2000 Kilometer Rad fahren, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Mensch so etwas überhaupt leisten kann. Ich habe dann über den Betriebssport, über Bauunion Magdeburg, angefangen zu trainieren. Dann habe ich erst an DDR-Rundfahrten teilgenommen und hatte schnelle Erfolge. So kam ich ins Trainingslager zur Vorbereitung auf die Friedensfahrt und bin das erste Mal 1952 mitgefahren. Das war so sauhart, dass ich mir sagte, nein, da fährst du nie wieder mit. Dann erholt man sich aber über den Winter und die Begeisterung der Menschen trägt einen wieder an den Start. Ich bekam damals schon viele Briefe und Ermunterungen. Das baut einen auf. Ohne die Friedensfahrten wäre ich nicht Weltmeister geworden.
"Täve" Schur während des 4000-m-Einzelverfolgungsrennen in der Werner-Seelenbinder-Halle, Januar 1956
- Und sie wären nicht zu so einem Idol geworden.
- Für die Menschen im Land waren wir Vorbild. So war jeder unserer Erfolge zugleich ein Erfolg für die DDR und ihre Menschen, etwas, worauf man stolz sein konnte. Die Sportler bei uns haben Geschichte geschrieben. Wir haben mit unseren körperlichen Leistungen und den Möglichkeiten, die wir in der DDR hatten, alles gegeben, um zu zeigen, dass unser Land mit unseren Menschen eine Zukunft hat. Wir mussten uns ja erst einmal einen Namen machen in der Welt. Ich habe Anfang der 1950er Jahre noch erlebt, dass wir uns vom Alliierten Kontrollrat Visa holen mussten für die Einreise zu Weltmeisterschaften im Ausland. Als wir dann vom Internationalen Olympischen Komitee infolge unserer Leistungen als DDR-Sportler anerkannt waren, konnten wir überall teilnehmen.
- Wäre es nicht an der Zeit, so eine völkerverbindende Fahrt für den Frieden zu reaktivieren?
- Das wäre durchaus an der Zeit bei der Entwicklung auf dieser Welt. Aber unter kapitalistischen Bedingungen ist es schwierig, so etwas zu organisieren. Der Sport gewinnt gelegentlich die Beachtung der Menschen. Aber dann siegt doch wieder die Berieselung und Ablenkung durch das Fernsehen und alle möglichen Sachen.
- Wie war zu DDR-Zeiten das Verhältnis zur Sowjetunion und was ist davon geblieben heute im Verhältnis zu Russland?
- Wir haben gewusst, was die Sowjetmenschen im Krieg geleistet und erlebt haben, wie viele Soldaten der Roten Armee starben, um den deutschen Faschismus zu beseitigen. Ich habe eine Einladung von Gesine Lötzsch (Bundestagsabgeordnete und ehemalige Parteivorsitzende der Linken, Anm. d. Red.), am 7. Mai mit dem Rad von Seelow nach Berlin zu fahren. Das schulde ich der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Ich ziehe den Hut vor den russischen Menschen. Ich bin ein Freund Russlands. Meine Tochter hat dort studiert und war gerade erst wieder in St. Petersburg.
Volkskammer-Abgeordneter Gustav-Adolf Schur (vorn) bei einer Sondersitzung 1988
- Nach der Wende wurde kein gutes Haar an der DDR gelassen, eine ganze Generation aufs Abstellgleis geschoben. Sie sind in gewisser Weise ein Symbol für diese Menschen, dass nicht alles schlecht war in der DDR. Macht Sie das stolz?
- Mich macht stolz zu wissen, was wir hier erreicht hatten. Wir haben alle geschuftet und aus Nichts etwas aufgebaut. Das konnte uns auch der Westen nicht kleinreden. Die haben während des Kalten Krieges hier rübergerieselt und mit der Banane geblinkt. Nun habe ich als Sportler Bananen auch ganz gern gehabt. Aber ich bin auch nach der sogenannten Wende nicht losgelaufen wie ein Blöder. Ich habe meine 100 Mark Begrüßungsgeld bis heute nicht abgeholt. Nach der Wende wurden wir dann abgezockt, alles wurde von der Treuhand verscherbelt und niedergemacht. Plötzlich stieg im Westen die Zahl der Millionäre, die sich hier bereichert haben.
- In der DDR haben Sie mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold die höchste Auszeichnung bekommen. Im Westen wurden Sie nicht einmal in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen. Wurmt Sie das?
- Schon. Zumal die Auszeichnung in der DDR ja die größte war, die man als Sportler kriegen konnte. Und warum ich so etwas nicht im Westen bekomme: Ich bemühe mich, mein Leben in der DDR so zu schildern, wie ich es erlebt habe. Ich lass mich nicht verbiegen, um nach dem Munde zu reden.
- Gerade wurden 30 Jahre Mauerfall begangen, in diesem Jahr 30 Jahre Wiedervereinigung. Sind sie im Rückblick zufrieden, wie alles gelaufen ist?
- Nein, ich bin nicht zufrieden. Ich meine, mir geht's gut. Ich kann nicht klagen. Ich komme auch mit meiner Rente aus. Aber glücklich bin ich nicht, wenn ich sehe, wie sich die Menschheit selbst im Kapitalismus kaputt macht.
- Sie waren schon immer auch politisch engagiert und klar positioniert. Wie sehen Sie die heutige politische Situation?
- Das Kapitel hat gesiegt. Die Atomwaffen werden wieder zur Bedrohung. Die Amerikaner haben es geschafft, Jugoslawien kaputt zu machen, den Irak kaputt zu machen. Sie sind überall auf der Welt. Wahrscheinlich sogar in diesem Gespräch (lacht).
- Wenn Sie zurückblicken auf Ihr Leben, worauf sind Sie besonders stolz?
- Ich bin stolz darauf, dass meine Kinder anständige Menschen geworden sind. Ich bin stolz darauf, welche Erfolge wir in der DDR erreichen konnten. Die Menschen hier haben eine Entwicklung genommen, die man ihnen nicht nehmen kann. Wir hatten ein gutes Bildungssystem, wir haben Wissenschaftler und Kosmonauten hervorgebracht. Schulsport war außerordentlich wichtig in der DDR. Da gab es eine vorbildliche Entwicklungskette vom Kindergarten bis zum Hochleistungssport. Das ist heute nicht mehr so. Das macht mich im Rückblick stolz. Wir waren auf der richtigen Seite.
Gustav „Täve“ Schur 1998 während einer Wahlveranstaltung der PDS in Dresden
- Verraten Sie uns zum Schluss noch Ihr Geheimnis, wie man gesund alt wird?
Wir müssen wahrscheinlich zum Teil wieder so leben wie unsere Vorfahren - barfuß laufen, sich viel bewegen, bücken, Grünzeug essen, schlank bleiben und aufpassen, was man isst. Keine Pestizide. Kaum Fleisch essen. Wenig oder überhaupt kein Zucker. Ein einfaches Leben ist am besten. Man sollte nicht auf jede Werbung aufspringen. Genügsam sein ist für uns und die Welt am besten. Schauen Sie doch jetzt das Coronavirus an - wie konnte denn so etwas entstehen?
- Und Fahrradfahren kann auch nicht schaden, oder?
- Naja, die Haltung ist tatsächlich nicht so vorteilhaft. Obwohl es natürlich im Großen und Ganzen gesund und ein herrliches Gefühl ist. Aber tatsächlich ist es am gesündesten zu gehen und zu laufen.
Gustav-Adolf „Täve“ Schur (89) konnte als jeweils erster Deutscher die Weltmeisterschaft der Amateure und die Internationale Friedensfahrt gewinnen. Er war von 1958 bis 1990 Volkskammerabgeordneter für die FDJ, SED bzw. PDS. Von 1998 bis 2002 gehörte Schur der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag an. 2005 wurde der in der Volkssternwarte Drebach (Erzgebirge) entdeckte Asteroid 2000 UR nach Schur benannt.
Das Buch „Was mir wichtig ist“ von Täve Schur ist am 5. März im Verlag „Neues Leben“ erschienen.